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Zur Ruhe kommen Seite 1

Zur Ruhe kommen 3



Foto:Literadies
 

Foto: Antje Hessler bei Plattpartu.de

Abschied

Blasses Gesicht
weißes Linnen
schneeweißes Glöckchen
weiche Lippen
berühren es sacht

Wo sind die Blumen
wo sind die Vögel
wo ist die Sonne
wenn der Winter kommt
wenn du fort sein wirst
wenn ich allein bin

Brunhilde Kollars

 

 

 

Illustration von Claus Günther/Literadies


Wandlung


Als meine Stimme versagte,
begann ich zu singen.

Als mein Gehör nichts mehr wahrnahm,
begann ich zu lauschen.

Als meine Augen sich schlossen,
begann ich zu sehen.

Als meine Lunge erstarrte,
begann ich zu atmen.

Als ich mein Herz nicht mehr spürte,
begann es zu schlagen.

Als meine Glieder erlahmten,
begann ich zu tanzen.

Als mein Verstand sich befreite,
begann ich zu glauben.

Als meine Seele zu Gott fand,
begann ich zu lieben.

Claus Günther

Glaub es nur

Gib nicht auf, der Kampf geht weiter.
Lass nicht nach, das Ziel ist nah.
Wenn's dunkel wird, fang an zu singen,
wenn du weinst, denk an die Freude,
die dein Leben einst beschwingte.
Die Dunkelheit, sie wird nicht bleiben,
glaub es, glaub es nur!
Es kommt der Morgen,
da geht auch für dich die Sonne auf.

Gertrud Everding

 


 

Elbtalaue bei Geesthacht: Everding/Literadies

Schöpfung

Nichts Tristes,
nichts Simples
findet sich
in der Natur.

Die niederste Kreatur,
ein Halm, ein Blatt,
sie sind Wunder
der Schöpfung.

Robert Mahler

     

In jeder Pfütze spiegelt sich der Himmel
von Gertrud Pforr


Es gibt Zeiten, da gehen wir mit einem Lächeln durch den Tag. Nichts kann uns aus dem Gleichgewicht bringen. Und dann passiert es, dass irgend etwas in unser Leben tritt, das uns aus der Bahn wirft. Alle Freude ist wie weggewischt. Es scheint uns, als müssten wir unter der Last unserer Sorgen zusammenbrechen.

Grau war der Tag und stürmisch. Die Bäume bogen sich und der Regen klatschte an die Scheiben. Das trübe Licht ließ die Schatten des Raumes auf mich zu kommen, dichter wurden sie und bedrohlicher.
Plötzlich packte mich wieder die Angst. Seit ich vor vier Monaten arbeitslos geworden war, meine gut bezahlte Stellung in der Bank verloren hatte, litt ich oft unter solchen Ängsten.

Ich war jung, warum konnte ich sie nicht einfach abstreifen? Gedanken stürmten auf mich ein und ich hörte meine alte Tante zu mir sagen: dem Mutigen gehört die Welt.
Dem Mutigen - war ich mutig? Ich schüttelte stumm den Kopf.

Das Gefühl einer unendlichen Traurigkeit legte sich wie ein großes schwarzes Tuch auf mich. Wen interessierte es, dass es mich gab, dass ich lebte, atmete? Allein war ich - wurde nicht mehr gebraucht. Sicher vermisste mich niemand.
Das Atmen fiel mir schwer. Mein Herz raste.
Nein, so konnte es nicht weiter gehen! Ich riss mich zusammen. So tief durfte ich mich nicht fallen lassen. War es das Zwielicht, das ins Zimmer drang - das Heulen und Toben des Sturmes?

Ich musste etwas tun, musste raus hier, raus aus dem Zimmer, aus dem Haus, mich den Schwierigkeiten meines Lebens entgegen stellen! Ich wollte Regen und Sturm spüren, fühlen, dass ich lebte.
Im Flur nahm ich Mantel und Schirm, öffnete die Tür und ging durch das stille Treppenhaus. Als ich die Straße betrat, packte mich der Sturm mit ungeheurer Wucht. Der Schirm klappte über und zerriß. Ich hatte Mühe, mich auf den Füßen zu halten. Schon nach wenigen Minuten war ich nass bis auf die Haut, meine Haare tropften.

Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen die Gewalt der Böen, spürte die klatschenden Regentropfen im Gesicht - aber ich lächelte!
Herrlich - ich lebte! Es machte mir plötzlich unbändige Freude, durch das Unwetter zu gehen.
Ich atmete freier, mein Herz schlug kraftvoll und ruhig. Das Dunkle, das Traurige und Bedrohliche fiel von mir ab. Eine innere Heiterkeit erfüllte mich.

Der Sturm hatte sich beruhigt und es regnete nicht mehr. Nur abgerissene Äste und große Pfützen zeugten noch von dem Unwetter. Ich blickte nach oben. Die Wolkendecke riss auf - ein noch zaghaftes, hoffnungsfrohes Blau schimmerte hindurch.
Die Sonne kam heraus und ich atmete tief die reine, milde Luft.
Herrlich war die Welt!

Beschwingt wich ich einer Pfütze aus, in der sich der blaue Himmel spiegelte.

     
Zuversicht

Da sind des Lebens dunkle Augenblicke,
in denen nichts mehr bleibt als beten,
als händefaltend still zu bitten,
es mögen Trost und Hilfe werden
in deiner Not der wunden Seele.

Sei zuversichtlich, hab' Vertrauen!
Getrost darfst du dein Hoffen bauen
auf jene Kraft, die alles Sein durchwirkt
und jeder Seele Not Erlösung birgt.

Text und Foto von H.-W. Ecker/Literadies

     
     
Textile Autorität von H.-W. Ecker

Er war Wachmann in einem Großbetrieb und hatte nur noch wenige Wochen bis zum Beginn seines Ruhestandes.
Noch aber war er im Dienst,und noch konnte es den jungen Dachsen zeigen, was es heißt, Dienst zu tun, sreine Pflicht zu erfüllen, ohne aufzumucken. Jawoll, das konnte und wollte er bis zum letzten Tag.

Er reckte das Kinn, griff mit der Linken prüfend an den Krawattenknoten und strich mit der Rechten über den strammen Bund der schwarzen Hose.
Nicht ohne Anstrengung, die ihm die Röte ins Gesicht trieb, zog er die Stiefeletten an, die - von seiner Frau am Abend vorher auf Hochglanz poliert - morgens vor dem Küchenherd für ihn bereit standen.
Solcherart gerüstet ging Adolf Braun mit ruhigfestem Schritt zur Garderobe am Ende des Flures, wo sein dunkelblauer Uniformrock auf einem Bügel am Haken unter der dazugehörigen Schirmmütze hing.

Mit geschultem Blick überprüfte er den Zustand des Rockes und entfernte einen Fussel von der Stelle, an der einst auf seinem Waffenrock das Kriegsverdienstkreuz seinen Träger dekorierte. Und einen Augenblick lang sah er sich wieder in jenem schmucken grauen Uniformrock mit den leuchtenden Kragenspiegeln, den silbern glänzenden Tressen und den Sternen auf den Schulterklappen.
Vor ihm aber hing der dunkelblaue, fast schmucklose Rock, der ihm gleichwohl im Laufe der Jahre zur zweiten Haut, zugleich zu einer Art Dienst- und Personalausweis geworden war und ihn außerdem nicht zuletzt durch die metallenen Initialen SD auf den Kragenecken als Angehörigen des betriebseigenen Sicherheitsdienstes und damit als Autoritätsperson mit gewisser Weisungsbefugnis identifizierte.

Trotz seiner stets amtlich strengen Miene, war seine Gebärde fast zärtlich, als er mit dem Handrücken über das dunkle Tuch strich.

Mit einem Seufzer resignativer Ergebenheit in die ungeliebten, aber unabänderlichen Zeitläufte ließ er die mit dem Daumen gespannten Hosenträger klatschend an die Brust zurück schnellen, nahm die Uniformjacke vom Bügel, zog sie über das graue Hemd mit dem schwarzen Binder, wischte mit dwem Ärmel über einen der silberfarbenen Metallknöpfe, der ihm ein wenig blind erschien, zog die Jacke an der Knopfleiste mit einem Ruck nach unten, ohne jedoch die kleinen Falten quer über die Rundung des Bauches damit wirklich glätten zu können, und krönte das Ganze schließlich mit der schildbewehrten Mütze, unter der sein Gesicht kaum noch zu sehen war.

Ein kritischer Blick in den Spiegel bestätigte ihm einmal mehr: vorschriftsmäßig gekleidet.
Seine Frau reichte ihm die altgediente, schon ein wenig schäbige Ledertasche, in der sie die Brotdose, die Thermosflasche mit dem Schonkaffee und eine Stoffserviette verstaut hatte.
Noch einmal sah er in den Spiegel; verspürte so etwas wie Respekt vor sich selber und war zufrieden. Ein letzter Blick auf die Uhr sagte ihm, er würde wie immer rechtzeitig auf seinem Posten sein.
Und mit einem "Bis heute Abend, Mutti!"- seiner Frau in der Küche zugerufen - ging er aus der Tür. Sein Dienst hatte begonnen.

 

 

Papa, Mama, Mario Erzählung von Claus Günther

Das war ein Sommertag gewesen, ach, wenn ihr wüsstet! Am Morgen war Papa gekommen, Marios Papa, der beste Papa auf der ganzen Welt, lachend und braungebrannt, mit schwarzem, lockigem Haar, das offene Hemd schneeweiß und wie zum Bersten gespannt über muskulösen Schultern und kräftigen Armen.
"Papa!" Rasend schnell war Mario ihm entgegengerannt, war ihm in die Arme geflogen und hatte sich herumschwenken lassen, einmal, zweimal, dreimal - "Mehr, mehr, mehr!" - bis es ihn schwindelte und er den Duft des Vaters einsog, diese unnachahmliche Mischung aus Schweiß und Rasierwasser, Brandy und Zigarillos. Schließlich, als Mario wieder auf der Erde stand, ein wenig schwankend noch, war seine Mutter aus dem Haus getreten. Sie trug ihr blendend weißes, figurbetontes Kleid und, passend zu den Schuhen, eine Rose im dunklen, schulterlangen Haar, ihre rote Rose aus Seide.

"Guten Morgen!" Eine flüchtige, beinahe scheue Begrüßung mit dem Vater. Mario fiel auf, dass sie ihm nicht über die messerscharfen Bügelfalten der schwarzen Hose strich. Das hatte sie sonst immer getan. "Umarmt ihr euch nicht?" Ja doch, Junge. Und wieder dies Zögern.
Dann aber hinaus mit der Bahn, hinunter zum Hafen, rauf auf das große Schiff. Eile war geboten, die vielen Leute! "Lasst uns draußen sitzen, da vorne, oh ja! Ich sitze hier, ihr zwei gegenüber!", dirigierte Mario, und sein Vater fragte ihn lächelnd nach dem Jeansanzug - "Sieht super aus, du!" "Hat Oma mir geschenkt. Letzte Woche. Hier", sagte Mario und zeigte ihm das Etikett der Marke. "Du hast ja kein Geld, Papa, oder? Na, du kriegst schon wieder Arbeit. Seht mal, wir fahren schon!"
Ja, das war ein Sommertag gewesen... Irgendwo hatte das Schiff angelegt, später, und irgendwo waren sie essen gegangen. Nein, nicht irgendwo, sondern hier, hier ist es billiger. Für Marios Vater nur einen Brandy - "Papa hat Magenschmerzen" - ach, Mario kannte diesen Glanz in den Augen, und er war ja auch lange an der Bar gewesen, unten auf dem Schiff, der beste Vater der Welt. Von seinem letzten Geld aber -
"Schau nur, meine Taschen sind leer, jetzt bin ich frei!" - hatte er Mario ein Eis spendiert nach dem Essen - "das größte und beste, das Sie haben für meinen Sohn!" - doch seltsam, es hatte einen bitteren Beigeschmack gehabt.
Am Nachmittag war Papa eingeschlafen, dort drüben, auf der Bank, aber Mario war mit seiner Mutter, seiner traurigen Mama, in den Ort gegangen, und da hatten sie ein leeres Karussell entdeckt, das ein lustiger, dunkelhäutiger Bursche beaufsichtigte.
"Ein Zigeuner, Mama?"
"So heißt das nicht. Roma, glaub ich."
"Mal fahren, junger Mann? Ganz umsonst, ganz allein?"
Dabei hatte er Mama angesehen, sie regelrecht taxiert. Und dann war da noch ein zweiter Zigeuner aufgetaucht, nein, ein Roma, kaum älter als Mario.
"Pass du mal auf so lange, Brüderchen!"
Weg waren sie, die zwei, der Schlaks mit Marios Mama, aber Mario durfte Karussell fahren, wieder und wieder, so oft, wie in seinem ganzen Leben nicht, bis, ja, bis sein Vater plötzlich daneben stand und Einhalt gebot.
"Wo ist deine Mutter? Sag schon! Wo ist Mama?"
Er hob Mario herunter, schüttelte, schlug ihn fast, ließ ihn los. Auf einmal war alles vollkommen still. Eine Fliege machte sich davon. Grell brannte die Sonne herab. In weiter Ferne schlug ein Hund an. Wo ist Mama...
"Hier, hier bin ich doch!"
Wie aus dem Boden gewachsen, die Wangen gerötet, das Haar zerstaust, Gesicht und Arme triefend nass, so stand sie da. Erleichtert blickte Mario seinen Papa an, folgte seinem prüfenden Blick. Die Rose! Wo ist -
"Hier, Madame! Sie haben verloren auf dem Weg. Mein Herr, habe die Ehre.."
Sich tief verbeugend, den rechten Arm mit weit ausholender Geste schwenkend, machte sich der schlaksige Bursche samt seinem Bruder davon.
Stille, abermals. Ach, es gäbe viel zu fragen...
"Wenn ihr euch auch erfrischen wollt, ihr zwei, da unten ist ein kleiner Teich!"
Oh ja? Nein, Mario, man muss vernünftig sein, unser Dampfer wartet nicht.
"Krieg ich denn eine Cola? Bitte Mama, ausnahmsweise, eine große, eiskalt! Ja? Danke, Mama, du bist die beste Mama der Welt!"
Ja, so war das mit dem Sommertag. Jetzt, am Abend, liegt Mario in seinem Bett. Eigentlich ist er todmüde, doch seine Gedanken verweilen bei dem Schweigen, das zwischen seinen Eltern war. Und dieses Wort, wie hieß es gleich? Sorgerecht. Ob sie ihm das erklären können?
Wenn Mario den Kopf nach links wendet, erblickt er hinter dem Rollo ein schmales Stückchen Himmel, mit Sternen übersät. Papa, Mama... Woher kommen die Sterne? Warum fallen sie nicht herunter? Wie viele Sterne gibt es überhaupt? Ist die Sonne auch ein Stern, und der Mond, und die Erde? Die Erde ist ein Planet. Was ist ein Planet? Es war ein schöner Tag heute, Papa.
Kommst du wieder? Bleib doch bei uns, Papa, bitte. Und wenn ich bete, lieber Gott? Du kannst doch alles möglich machen, alles. Ich will auch brav sein jetzt und schlafen.

     
Ich bin so frei

Ich bin so frei, mich selbst zu finden.
Ich bin, weiß Gott, bei mir im Wort.
Ich suche mich zu überwinden.
Ich lasse los. Jetzt gleich. - Sofort.

Ich bin so frei mich zu verändern.
Ich sage ab beim Rollenspiel.
Ich steige aus aus den Gewändern.
Ich weiß den Weg. Er ist das Ziel.

Ich bin so frei, mir zu vertrauen.
Ich glaube an des Lebens Sinn.
Ich kann auf meinen Schöpfer bauen.
Ich will nicht werden. Nein. - Ich bin!



Illustration und Text von Claus Günther


Ich bin so frei, mich freizugeben.
Ich löse mich von Angst und Zwang.
Ich atme Licht. Ich werde schweben.
Ich glaube . . .liebe . . . Gott sei Dank.

Ich bin in Räumen fern von Zeiten.
Ich bin, wo jenseits Sterne sind.
Ich bin beschützt von Wesenheiten
Ich bin, wie Du, ein Menschenkind.

Misstrauen von Edgar Brinkmann

Ich sagte mir: Junge, du musst Dialoge schreiben. Dann wollte ich einen Film drehen und nahm mir vor, die Leute zu den Bildern sprechen zu lassen, doch wusste ich nicht, sollten erst die Leute reden und dann drehte ich, oder wollte ich erst drehen und dann sollten die Leute etwas sagen. So gaben aber die den Kommentar und nicht ich. Nicht, weil ich somit um meinen Kommentar kam, war ich beunruhigt - ich hatte es ja so gewollt, sondern weil die Leute statt meiner redeten, und ich war misstrauisch gegenüber dem, was sie sagen würden und traute eigentlich nur meinem Kommentar. So kam der Film nicht zustande.

 

wahrheit

wohin nur gehn
was glauben
ist doch der tag voll lüge
richtet zugrunde
den aufrechten, den stolzen,
stets der pflicht gehorchen
war sein spruch

und nun -
ist denn nicht recht
was einst die väter lebten
darf denn ein lügenmund
der wahrheit ruf verdrehen -
das darf nicht sein!

anklagen will ich sie
die falschen zungen
will kämpfen so lange
mir kraft bleibt


digitalbild und text:
gertrud everding/literadies

 

Was bleibt von uns? Betrachtung von Charlotte Brozzo

Was bleibt von uns, wenn unsere Körper zerfallen? Vielleicht ein paar Fotografien, einige Handschriften, ein Tüchlein.
Was bleibt von uns, wenn auch die, die sich unser erinnern einmal nicht mehr sind? Vielleicht sagt in vielen Jahren einmal ein alter Mann oder eine alte Frau "mein Urgroßvater war..." oder "meine Großmutter hatte...".
Und was bleibt von uns, wenn eine Katastrophe alle die auslöscht, denen wir unsere Gene gaben? Vielleicht findet dann irgendwann irgendwer irgendwo ein uraltes Bild, auf dessen Rückseite etwas steht, das er nicht mehr lesen kann.
Vielleicht ist es ein sentimentaler Mensch, der das Bild in einen Rahmen steckt und es an die Wand seiner Behausung hängt. Vielleicht ist dann doch etwas von uns geblieben.




Text und Bild von Gertrud Everding/literadies

Verantwortung

Antwort
Wem?
Worte machen
Werten
Oder warten?
Zu seinem Wort stehen
Beim Wort genommen werden
Jemandem sein Wort geben
Die Worte verdrehen
Jemandem kein Wort gönnen
Wortkarg sein
Die Antwort schuldig bleiben
Bin ich schuldig?

Verantwortung.

 

 

Ich an mich

Genieß doch, eh Du sterbst,
des Lebens güld'nen Herbst.

Robert Mahler

 


Aus dem Tagebuch eines angejahrten Zeitgenossen


Randbemerkungen
von H.-W. Ecker

Nach dem üblichen Nachmittagskaffee - gelegentlich in einem Cafè eingenommen, dieses Mal auf der sonnigen Terrasse eines Restaurants am Rande der Stadt - konnte ich meine Frau bewegen, mich noch auf einem Spaziergang am Ufer des nahen Sees zu begleiten, obwohl sie an diesem Tage schon mehrere längere Wege hinter sich gebracht hatte. Ihre Miene signalisierte mir nicht gerade uneingeschränkte Zustimmung, gar Begeisterung; dennoch ging sie mit, konnte es sich aber offenbar nicht verkneifen, mir einmal mehr vorzuhalten, sie verschaffe sich mehr Bewegung als ich, der zu viel am Schreibtisch säße. Zugegeben, sie hatte damit nicht unrecht, aber die häufige Wiederholung dieser Rede schrammte doch am Rande meiner Unmutsgrenze entlang, standen ihrer Feststellung ja keine faulen Ausreden, sondern sachliche Gründe entgegen, wie des öfteren, wenn weibliche Besorgnis auf die Logik männlicher Selbstbehauptung trifft. Ich nehme an, sie gab wieder einmal nach, weil sie im stillen anerkannte, dass ich sie bei ihrem obligaten Nachmittagskaffee - zumindest denen außer Haus - immer wieder begleite, auch wenn ich dabei in der Regel nur höflicher Begleiter, nicht aber wirklicher Teilnehmer bin.
Unser Weg führte auf knirschendem Kies am Seeufer entlang bis zu einer Landzunge, auf der Bänke zum Verweilen einluden und die Bäume reizvolle Blicke über den See frei ließen. Die Sonne dieses Spätsommertages drang durch der umstehenden Eichen hellgrün und transparent erscheinendes Blattwerk zu uns auf die Bank und löste ein dankbar empfundenes Wohlgefühl in uns aus. Ein sanfter Luftzug berührte uns und trug den ein wenig strengen, von Vergänglichkeit angehauchten Duft heran. Die schon tief stehende Sonne breitete ihren Glanz funkelnd über die Wasserfläche vor uns, während das trübe Wasser zur Seemitte hin sich unergründlich dunkel zeigte. So weit das Auge reichte, keine Ente, kein Haubentaucher und nirgendwoher das kurze bellende "Köw, Köw" und das platzende "Pix" eines Bläßhuhns. Geradezu unheimlich still schien die von Röhricht und Laubwald gesäumte Wasserfläche im Hintergrunde. Unmittelbar vor uns indes, im seichten Wasser unter den überhängenden Ästen einer Eiche hart am Rande des Ufers spiegelte sich der blassblaue Himmel mit einigen der weißen Wolkenbäusche.

Und da war Bewegung, war Leben, das unsere Aufmerksamkeit zunehmend erregte: Unzählige Wasserläufer schnellten mit ihren vier langen Beinen, Rennbooten mit Auslegern gleich, auf dem Wasserspiegel in scheinbarem Durcheinander kreuz und quer, hin und her, ohne dass je eines der langbeinigen Tierchen an ein anderes gestoßen wäre. Merkwürdig! Schnelle Bewegung einer Vielzahl von Individuen auf engstem Raume ohne erkennbare Ordnung! Ihre Körper spiegelten sich im Wasser, so dass man glauben konnte, sie bewegten sich zu zweit; aber dies war eine Täuschung. Wo war das Verkehrsleitsystem, das die fortwährend erwarteten Kollisionen so sicher verhinderte? Faszinierend diese stetig unstete geschäftige Bewegungsvielfalt zur Nahrungsaufnahme, ohne dass das unserem - offenbar zu trägen Auge - erkennbar wäre und dennoch Tatsache ist!

Ich musste in diesen Augenblicken an die Verse von Matthias Claudius denken, und zwar an die Stelle, in der er im Rückblick vom Halbmond und seiner unsichtbaren anderen Hälfte sagt: ". . . so sind wohl manche Sachen, / die wir getrost belachen, /weil unsre Augen sie nicht sehn."
Erkennbar und nicht nur erstaunlich, sondern wunderbar zu nennen an diesem Schauspiel vor unseren Augen war die Tatsache der - wie gesagt - kollisionsfreien schnellen, zielgerichteten Fortbewegung einer Vielzahl solcher fast unscheinbaren kleinen Tiere ohne jedes wahrnehmbare Orientierungssystem. Nicht minder faszinierend und unseren Augen durchaus erkennbar die Tatsache des Laufens auf dem Wasser. Bei genauerem Hinsehen sind an der Auflage der vier langen Beine der Wasserreiter - wie man die Wasserläufer auch nennt - leichte Vertiefungen der Wasseroberfläche zu erkennen, Eindrücke der vierbeinigen Leichtgewichte und zugleich Ausdruck der Oberflächenspannung des Wassers, die einer zarten Haut gleich nachgibt, ohne zu reißen und so den Wasserläufern ihre schnelle Fortbewegung ermöglicht.
Meine Frau sah mich verwundert an, als ich unwillkürlich einen Seufzer von mir gab und meinte, wir sollten den Rückweg antreten. Die Beobachtungen auf dem Wasser am Rande der Landzunge hatten uns still werden lassen. Dahinschreitend dachte ich an den selbstbewussten, um nicht gleich zu sagen selbstherrlichen Menschen, der mir in diesen Augenblicken im Rahmen des Weltalls - wie Jacques Monod sagte - einem "Zigeuner am Rande des Universums" gleich schien, stetig unstet und geschäftig wie die Wasserläufer, aber ohne deren unsichtbares natürliches Verkehrsleitsystem im Zusammenleben auf engstem Raume. Der unscheinbare Wasserläufer wird gehalten und getragen von Kräften der Natur, denen zu vertrauen der Mensch in seiner prometheischen Selbstherrlichkeit nicht mehr ohne weiteres bereit ist und deshalb fortwährend Gefahr läuft, an seiner Ignoranz zugrunde zu gehen.
Zu lange haben wir geglaubt, im Zentrum des Universums zu stehen, ja das Zentrum zu sein, zu lange haben wir nicht bemerkt, nicht wahrhaben wollen, dass wir im Rahmen der Evolution Randerscheinungen sind; kontingente Erscheinungen am Rande, an dem sich der Abgrund öffnet, der uns leicht zu einer mehr oder weniger bedeutsamen Randbemerkung des universalen Geschehens werden lassen könnte, es sei denn, wir vernachlässigen die notwendige Balance innerhalb und mit der Natur nicht weiterhin so sträflich wie bisher. Zeigen uns die katastrophalen Folgen unseres Umganges mit der Natur noch nicht deutlich genug, wie notwendig es ist, sich entschiedener in gemeinsamen Anstrengungen um die Balance vom Rande her zu kümmern, den Rand zu halten und bescheidener aufzutreten?

Fotos: Gertrud Everding/Literadies

 

 

Narben von Claus Günther

1947, Anmerkungen zum Thema Angst

Angst hatte und hat für mich unterschiedliche Gesichter. Mit Ängsten bin ich aufgewachsen; sie haben einen Teil meiner Persönlichkeit geprägt. Während des Krieges war es die Angst vor den nächtlichen Bombardements, bei der HJ hatte ich bisweilen Angst, sportlich zu versagen. Vor allem aber war es Angst vor Bestrafung, die meine Kindheit häufig verdunkelt hat und mir letztendlich das Urvertrauen nahm. Mäßige Strafen gab es für Heimlichkeiten oder Lügen, hart bestraft hingegen wurde meine kindliche Neugier auf das eigene und das andere Geschlecht, und das in einem Alter, als ich noch nicht zur Schule ging. Ein bedrohliches Einschüchtern und eine brutale Prügelstrafe haben unauslöschliche Narben auf meiner Seele hinterlassen.
Ängste und ihre Folgen... Man behält so etwas lieber für sich. Welcher Mann möchte schon gern als "schwach" gelten? In meiner Generation schon gar nicht. "Jungvolkjungen sind hart..." - der Krieg war es auch. Doch mit dem Ende der Hitler-Diktatur waren die harten Zeiten noch längst nicht vorüber. Im so genannten Todeswinter 1947 haben die meisten Jungen meines Alters Kohlen geklaut, um nicht mit der gesamten Familie erfrieren zu müssen. Schließlich, als die Diebstähle überhand nahmen, bekam die Bahnpolizei Order, hart durchzugreifen.
Wir wussten das, und wir wussten auch, dass in unserer Gegend ein junger Bahnpolizist besonders rücksichtslos vorging. Er hatte eine Lederpeitsche, und er schlug damit zu - mit Vorliebe auf die Köpfe, wie es hieß.

Er führte einen scharfen Hund mit sich, der die Kohlendiebe stellte.
Eines Tages, ich hatte meinen gefüllten Zampel bei mir, befand mich aber noch auf dem Bahngelände, hörte ich den Warnruf eines anderen Jungen und sah den Uniformierten von weitem, mit dem Hund an seiner Seite. Ich lief, als gelte es mein Leben! Meine geklauten Kohlen ließ ich fallen - und dann fiel ich selbst, fiel auf den Weg voller Schlacken und Schotter und schlug mir mein rechtes Knie auf. Ich spürte einen stechenden Schmerz, doch ich rappelte mich hoch und humpelte weiter so schnell es ging; die Angst saß mir im Nacken, und mein Herz schlug wie wild.
Ich weiß nicht, was den jungen Bahnpolizisten abgelenkt hat, jedenfalls ist er mir nicht gefolgt. Normalerweise hätte er mich erwischt. Der Weg nach Hause war mühsam, doch fast noch schlimmer als der Schmerz waren Wut und Trauer über die zerrissene Hose und die verlorene "Beute". Die Wunde aber, die verdreckte Wunde entzündete sich und wollte lange Zeit nicht heilen. Die Narbe habe ich heute noch und kann sie jedem zeigen - im Unterschied zu den seelischen Narben, die niemand sieht.

 

   


 

Für Krishna zum Neuen Jahr!

niemand ist allein
immer ist jemand
der an dich denkt.

das licht bleibt -
auch im dunkeln -
du wirst es sehen.

verlier nicht den mut -
die sterne sind über dir -
wenn du sie sehen kannst
wird alles gut.

Bild und Text:
Gertrud Everding/Literadies

Der Andere Gedanken von H.W.Ecker

Nach Stunden der Abwesenheit kam er Schritt für Schritt wieder zu sich. Schließlich stand er sich selber gegenüber. Alles, was er tat, geschah im selben Augenblick bei seinem Gegenüber. "Affe!" Diesen zweifelnden, abschätzigen Blick mochte er gar nicht.
Wer war dieser Andere eigentlich? Er sah aus wie er, bewegte die Lippen wie er; aber seine Denkweise und seine Empfindungen blieben gewöhnlich verborgen. "Hinterhältig, widerwärtig!" Spielte der Andere nur eine Rolle, seine Rolle; trug er eine Maske? Wo war dieser Andere, wenn er ihm nicht gegenüberstand? Hatte er ihn gar in sich, wenn er glaubte, bei sich, ganz er selbst, zu sein?

Wenn er in einer stillen Stunde mit sich zu Rate und in sich ging, meinte er, ihn schon ab und zu entdeckt zu haben. Das war nicht immer angenehm, wenn der Andere in der Rolle des stummen, mahnenden Zeugen mit vorwurfsvollem Blick erschien; ja, es war gar unheimlich und schmerzhaft, wenn das Dunkel abgründiger Tiefe ihn umgab. Wer war das also, der sein Wesen und Unwesen mit ihm trieb? War er der Affe, der ihm gleich schien, oder war es jener, der immer wieder einmal das Äußere, die Oberfläche, durchstieß und dunkle Tiefe offenbarte? Manches Mal kam es ihm vor, als triebe dieser Andere ein Verwirrspiel mit ihm, das ihn in einer Art Hassliebe schwanken ließ. Aber wer war denn nun der Eigentliche? Ob er je dahinter kommen würde?

 

   

Die Probe von Martin Ripp


Seit einigen Wochen spürte sie eine Leere in ihrem persönlichen Leben, fühlte sich erschöpft und entschlusslos, ein Gemisch aus Resignation und Verausgabung. Vor einem Vierteljahr hatte ihr Sohn das Haus verlassen und sich mit zwei anderen Studenten eine Wohnung gemietet. Ihre Tochter war vor zwei Jahren ausgezogen und lebte mit ihrem Mann in einer Eigentumswohnung in Kassel. Sie arbeiteten beide, um die Kosten tragen zu können. Sie als Zahnarzthelferin und der Schwiegersohn verdiente sein Geld als Handelsvertreter. Sein Gebiet reichte bis nach Österreich und in die Schweiz. Oft kam er abends nicht nach Hause und übernachtete in Hotels. Zwei oder dreimal im Jahr besuchten sie einander. Die Hoffnung auf ein Enkelkind hatte sie aufgegeben.
Als der Junge noch im Hause war, konnten sie sich unterhalten und sie sah es als ihre Pflicht, ihn zu betreuen. Aber sie hatte es auch gerne getan. Obwohl die Vierzimmer-Wohnung, die ihr jetzt viel zu groß war, nach wie vor in Ordnung gehalten werden musste, hatte sie weniger zu tun und dachte manchmal daran, wieder zu arbeiten. Vielleicht im Sozialdienst, wo sie vor dreiundzwanzig Jahren Menschen betreut hatte. Aber man hörte überall von Entlassungen.
Wer würde sie noch einstellen? Mit zweiundfünfzig Jahren gehörte auch sie zum alten Eisen!
Mit ihrem Mann hatte sie noch nicht darüber gesprochen. Er war in letzter Zeit sehr wortkarg. Ab und zu erzählte er von seinen Kollegen oder über seine Tätigkeit als Schiffsbauer bei einer Hamburger Werft. Sie machten sich Sorgen um die Arbeitsplätze. Sie hatten nur Reparaturarbeiten. Der erhoffte Auftrag für ein Containerschiff war nach Südkorea gegangen. Nach dem Abendessen erledigte sie den Abwasch und er las die Zeitung oder machte einen Spaziergang. Pünktlich um acht war er aber zurück, um nicht die Tagesschau zu versäumen. Danach einigten sie sich auf ein Programm und gingen zwischen zehn und elf Uhr schlafen.

Jeder lag still in seinem Bett. Manchmal las sie noch ein paar Seiten und hoffte, dass er zu ihr kommen, das Buch zuklappen und das Licht löschen würde, so, wie sie es bis vor einigen Monaten gewohnt war und genossen hatte. Aber seine Liebe war offensichtlich abgekühlt. Vielleicht ist das immer so nach vierundzwanzig Ehejahren. Aber vielleicht auch nicht! Diese Ungewissheit beschäftigte und bedrückte sie. War er einfach nur müde? War es die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes? Oder hatte er jemanden kennengelernt? Gab es irgendwo eine Geliebte? Eigentlich hatte er gar keine Gelegenheit. Am Tage ging er seiner Arbeit nach und abends und am Wochenende waren sie zusammen. Bis auf seinen Kegelabend am Donnerstag. Aber den nahm er schon seit über zehn Jahren in Anspruch, und sie hatte ihm nie misstraut. Vielleicht hatte die Gruppe sich vor ein paar Monaten aufgelöst und er tat nur so, als würde er dahin gehen. Ein besseres Alibi gäbe es nicht!

Am Tage verwarf sie diese Gedanken, konnte sogar darüber lachen. Aber sie hatten sich so festgesetzt, dass sie abends wieder ins Grübeln kam und sich verschiedene Versionen ausmalte. Sie ertappte sich dabei, dass sie sich nicht auf das Buch konzentrieren konnte, nicht wusste, was sie zuletzt gelesen hatte, weil sie mit ihrer eigenen imaginären Liebesgeschichte beschäftigt war. Es war höchste Zeit, die Situation zu klären! Das erschien ihr aber nicht einfach. Freiwillig würde er nichts zugeben. Sie müsste ihn überrumpeln, eine List anwenden, um ihn auf die Probe stellen zu können.

Eines Nachts schrie sie: „Dass du dich nicht schämst!“
„Weshalb?“ tat er ahnungslos.
„Du liegst da schnarchend wie ein alter Mann an der äußersten Bettkante und hast es faustdick hinter den Ohren!“
„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst!“ antwortete er ruhig.
"
Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen! Donnerstagabend hat ein Kegelfreund von dir angerufen. Sie machen sich Sorgen um dich. Du warst seit zwei Monaten nicht mehr dabei!“
Er schwieg.
„Hat dir das die Sprache verschlagen? Erzähl mir mal, warum du donnerstags erst um Mitternacht nach Haus kommst!“
„Ich kann dir alles erklären“, sagte er zaghaft, „ich bin---“
„Keine Ausflüchte!“ unterbrach sie ihn. „Wer ist die Hure?“
„Nicht wie du denkst!“ antwortete er. „Es ist ganz harmlos. Sie hat mir ihr Herz ausgeschüttet. Ihre Ehe ist kaputt. Du musst keine Angst haben. Wir haben uns nur unterhalten.“
Sie lachte höhnisch. „Unterhalten sagst du dazu? Bei ihr spielst du den Seelentröster und wie das in mir aussieht, ist dir vollkommen egal!“
„Du hast auch Schuld!“ widersprach er sofort. „Jahrelang hast du dich um unsere Kinder gekümmert. Und jetzt wo sie aus dem Haus sind, hast du Langeweile und bist traurig als wärst du allein! Ich bin noch da! Das hast du vergessen! Um mich hättest du dich auch ein bisschen bemühen können!“ Jetzt schwieg sie.
„Natürlich kommt irgendwann der Alltag, wenn man so lange zusammen ist wie wir“, nahm er das Gespräch wieder auf. „Man hat sich nicht mehr so viel zu sagen und die Neugier ist gestorben.“
Sie hatte ihre Aggressivität zurückgewonnen. „Du hast was vergessen: Die Liebe ist auch gestorben! Seit zwei Monaten hast du mich nicht mehr in den Arm genommen! Das sind genau die zwei Monate, in denen du auch deine Kegelfreunde im Stich gelassen hast! – Wo warst du? Wer ist diese Frau? Wo hast du sie kennengelernt?“

Er zögerte einen Augenblick. „Es hatte jemand aus unserer Gruppe Geburtstag und wir machten eine Pause und sind alle an die Theke gegangen. Sie saß zufällig neben mir und wir sind ins Gespräch gekommen.“
„Was für ein Zufall!“ sagte sie ironisch. „Und wie ging das weiter? Sie wird dir nicht in der Kneipe ihre Lebensgeschichte erzählt haben!“
„Sie trank mit uns Sekt, den Richard wegen seines Geburtstages auch für sie ausgegeben hatte. Später war sie ebenso angeheitert wie wir und ging mit uns noch kegeln. Beim Abschied drückte sie mir einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand.“
„Und du hattest nichts Eiligeres zu tun als anzurufen und dich mit ihr zu verabreden. Dafür war der Donnerstag ja bestens geeignet“
„Ja, ich war neugierig, wie das in anderen Ehen funktioniert oder in diesem Falle auch nicht. Aber es ist wirklich nichts passiert! Sie brauchte nur jemanden zum Zuhören.“
„Dass ich nicht lache! Und dafür hat sie ausgerechnet dich erkoren! Du bist so dreist, seit acht Wochen heimlich dieses Weibsstück zu besuchen und versuchst mich zu überzeugen, dass Ihr nur gequatscht habt!“ Voller Wut zog sie ihr Bein an, trat kräftig gegen seine Bettdecke und schrie: „Gib zu, dass du mich betrügst, du alter Bock!“

Der Tritt war so heftig, dass sie auch sein Schienbein traf und er mit einem Aufschrei hellwach im Bett saß. Sie war ebenfalls aufgewacht und schwieg beschämt.
„Was ist passiert?“ fragte er besorgt und schlüpfte in ihr Bett.
„Es tut mir leid“, antwortete sie. „Kannst du mir verzeihen? Ich habe mich geirrt. Mir war so, als hätten wir Streit.“

Er lachte und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich glücklich an ihn und sagte leise, unverständlich für ihn: „Nun bewirkt der Albtraum noch ein schönes Ende!“

Fuesse - Fotograf: S Hofschlaeger/pixelio

 

 

 

Erfahrung

Spuren hast du hinterlassen,
Wo sich Himmel und Erde berührten.
Ich kann und will es nicht fassen,
Dass sie nicht zusammenführten.

Wir flogen, wir liefen, wir fuhren,
Eroberten Kontinente,
Für uns schlugen andere Uhren;
Zeit sich mit zeitlos vermengte.

Die Wolken sind mit uns gezogen,
Erst leicht, dann schnell, dann schwer.
Hat mein Verstand mich betrogen?
Ich find den Gefährten nicht mehr.


"Spuren"  Gemälde von Beate Donsbach

Sie können das Bild zur Vergrößerung anklicken.

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Das Morgenrot, wie schon im Liede,
Es kündet den nahenden Tod.
Das Schweigen - es ist nicht der Friede,
Der Überfluss lindert nicht Not.

Ich hab dich verloren, ich weiß es.
Die Zeit schreitet fort - nicht zurück.
Deine Spuren sind in mich gemeißelt;
Es gab dieses flüchtige Glück.

Text und Gemälde: Beate Donsbach/Literadies

 
Sagt mir


Ich sammle Stille in einer Schale aus Glück:
Waldlaub und Tannenduft.
Es blüht orange und grün und blassblau
unter erstem Schnee.

Ich sammle Konzentration in einer Schale
aus Schmerz:
Die Sonne! Sie blüht in sanftem Gelb,
der Himmel in Taubenblau,
das Wundmal zerrt in reißend kreischem Rot.

Ich sammle Warten in einer Schale
aus Endlosigkeit:
Es blüht wie Nebelduft
und kommt und geht, wie's ihm beliebt.

Ich sammle Träume in einer Schale
aus Vergehen:
Sie blühen auf, sie welken hin...
Meereswogen am Winterhimmel.






Ich sammle Nacht in einer Schale
aus eisigem Licht:
Es klirrt silberweiß und märchenschön
in die feierlich stille Stunde.

Und in jene Stunde des Erwartens
bricht das Grauen ein:

Die Schalen zerbrechen, die Farben zerfließen - schwärzliches Grau!
Der Regenbogen zersplittert,
und fernab von Waldlaub und Tannenduft
suchen zahllose Menschen
Antwort in den Scherben des Nichts.

Sagt mir:
In welchen Farben blüht der Tsunami?

Elfi Bock, Reha-Klinik Aukrug,
25./26. Dezember 2004.

    Digitalbild: Everding/Literadies

 

Hiddensee von Adelheid Dohse

Sechs Tage hier auf meiner Lieblingsinsel Hiddensee liegen hinter mir. Tage voll Sonne, Wind und Meer und vielen Begegnungen, Erlebnissen und Glück. Seit meiner Jugend kenne und liebe ich dieses 'söte Länneken', wie die Einwohner ihr Eiland nennen. Wieder hat mich der Zauber dieser Insel ganz gefangen genommen.
Ist es der weiße Strand oder der Duft der Heckenrosen - der Inbegriff des Sommers für mich - sind es die Brandungswellen bei Sturm oder die Stille auf der Heide, oder alles zusammen? Es sind auch die vielen Erinnerungen, die mich bewegen.

Lange Jahre, während der Teilung Deutschlands, konnte ich nicht hier sein. Aber immer war die Sehnsucht in mir nach dem weiten Himmel, dem Blau der See, dem Weiß der Brandung und dem Duft des Sommers.
Morgen bringt mich mein Schiff nach Stralsund und von dort geht es nach Hause. Noch einmal fahre ich durch die blühenden Wiesen nach Kloster, dem schönsten Ort auf der Insel.
Ich will auf den Dornbusch, der Erhebung oberhalb des Dorfes. Von dort hat man einen weiten Blick über die ganze Insel. Da will ich Abschied nehmen. Wehmut erfasst mich. Werde ich noch einmal hierher kommen können?
Aber es kommt anders. Mitten im Dorf ergreift mich ein Schwindel und ich stürze mit dem Fahrrad in einen Zaun. Mein Bein fühlt sich merkwürdig an, meine Sprache ist undeutlich, kann auch nicht gleich die richtigen Worte finden. Der herbeigerufene Notarzt hat den Verdacht auf einen Schlaganfall, und ehe ich es recht begreife, befinde ich mich schon im Hubschrauber, der mich nach Stralsund auf die Schlaganfall-Station bringt.

So habe ich mir den Abschied von meiner Insel nicht vorgestellt.

Foto Hiddensee: Adelheid Dohse/Literadies ©

 


 

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