Textile
Autorität von H.-W. Ecker
Er war
Wachmann in einem Großbetrieb und hatte nur noch wenige Wochen bis
zum Beginn seines Ruhestandes.
Noch aber war er im Dienst,und noch konnte es den jungen Dachsen zeigen,
was es heißt, Dienst zu tun, sreine Pflicht zu erfüllen, ohne
aufzumucken. Jawoll, das konnte und wollte er bis zum letzten Tag.
Er
reckte das Kinn, griff mit der Linken prüfend an den Krawattenknoten
und strich mit der Rechten über den strammen Bund der schwarzen Hose.
Nicht ohne Anstrengung, die ihm die Röte ins Gesicht trieb, zog er
die Stiefeletten an, die - von seiner Frau am Abend vorher auf Hochglanz
poliert - morgens vor dem Küchenherd für ihn bereit standen.
Solcherart gerüstet ging Adolf Braun mit ruhigfestem Schritt zur
Garderobe am Ende des Flures, wo sein dunkelblauer Uniformrock auf einem
Bügel am Haken unter der dazugehörigen Schirmmütze hing.
Mit
geschultem Blick überprüfte er den Zustand des Rockes und entfernte
einen Fussel von der Stelle, an der einst auf seinem Waffenrock das Kriegsverdienstkreuz
seinen Träger dekorierte. Und einen Augenblick lang sah er sich wieder
in jenem schmucken grauen Uniformrock mit den leuchtenden Kragenspiegeln,
den silbern glänzenden Tressen und den Sternen auf den Schulterklappen.
Vor ihm aber hing der dunkelblaue, fast schmucklose Rock, der ihm gleichwohl
im Laufe der Jahre zur zweiten Haut, zugleich zu einer Art Dienst- und
Personalausweis geworden war und ihn außerdem nicht zuletzt durch
die metallenen Initialen SD auf den Kragenecken als Angehörigen des
betriebseigenen Sicherheitsdienstes und damit als Autoritätsperson
mit gewisser Weisungsbefugnis identifizierte.
Trotz seiner stets amtlich strengen Miene, war seine Gebärde fast
zärtlich, als er mit dem Handrücken über das dunkle Tuch
strich.
Mit einem Seufzer resignativer Ergebenheit in die ungeliebten, aber unabänderlichen
Zeitläufte ließ er die mit dem Daumen gespannten Hosenträger
klatschend an die Brust zurück schnellen, nahm die Uniformjacke vom
Bügel, zog sie über das graue Hemd mit dem schwarzen Binder,
wischte
mit dwem Ärmel über einen der silberfarbenen Metallknöpfe,
der ihm ein wenig blind erschien, zog die Jacke an der Knopfleiste mit
einem Ruck nach unten, ohne jedoch die kleinen Falten quer über die
Rundung des Bauches damit wirklich glätten zu können, und krönte
das Ganze schließlich mit der schildbewehrten Mütze, unter
der sein Gesicht kaum noch zu sehen war.
Ein kritischer Blick in den Spiegel bestätigte ihm einmal mehr: vorschriftsmäßig
gekleidet.
Seine Frau reichte ihm die altgediente, schon ein wenig schäbige
Ledertasche, in der sie die Brotdose, die Thermosflasche mit dem Schonkaffee
und eine Stoffserviette verstaut hatte.
Noch einmal sah er in den Spiegel; verspürte so etwas wie Respekt
vor sich selber und war zufrieden. Ein letzter Blick auf die Uhr sagte
ihm, er würde wie immer rechtzeitig auf seinem Posten sein.
Und mit einem "Bis heute Abend, Mutti!"- seiner Frau in der
Küche zugerufen - ging er aus der Tür. Sein Dienst hatte begonnen.
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Papa,
Mama, Mario Erzählung von Claus Günther
Das
war ein Sommertag gewesen, ach, wenn ihr wüsstet! Am Morgen war Papa
gekommen, Marios Papa, der beste Papa auf der ganzen Welt, lachend und
braungebrannt, mit schwarzem, lockigem Haar, das offene Hemd schneeweiß
und wie zum Bersten gespannt über muskulösen Schultern und kräftigen
Armen.
"Papa!" Rasend schnell war Mario ihm entgegengerannt, war ihm
in die Arme geflogen und hatte sich herumschwenken lassen, einmal, zweimal,
dreimal - "Mehr, mehr, mehr!" - bis es ihn schwindelte und er
den Duft des Vaters einsog, diese unnachahmliche Mischung aus Schweiß
und Rasierwasser, Brandy und Zigarillos. Schließlich, als Mario
wieder auf der Erde stand, ein wenig schwankend noch, war seine Mutter
aus dem Haus getreten. Sie trug ihr blendend weißes, figurbetontes
Kleid und, passend zu den Schuhen, eine Rose im dunklen, schulterlangen
Haar, ihre rote Rose aus Seide.
"Guten Morgen!" Eine flüchtige, beinahe scheue Begrüßung
mit dem Vater. Mario fiel auf, dass sie ihm nicht über die messerscharfen
Bügelfalten der schwarzen Hose strich. Das hatte sie sonst immer
getan. "Umarmt ihr euch nicht?" Ja doch, Junge. Und wieder dies
Zögern.
Dann aber hinaus mit der Bahn, hinunter zum Hafen, rauf auf das große
Schiff. Eile war geboten, die vielen Leute! "Lasst uns draußen
sitzen, da vorne, oh ja! Ich sitze hier, ihr zwei gegenüber!",
dirigierte Mario, und sein Vater fragte ihn lächelnd nach dem Jeansanzug
- "Sieht super aus, du!" "Hat Oma mir geschenkt. Letzte
Woche. Hier", sagte Mario und zeigte ihm das Etikett der Marke. "Du
hast ja kein Geld, Papa, oder? Na, du kriegst schon wieder Arbeit. Seht
mal, wir fahren schon!"
Ja, das war ein Sommertag gewesen... Irgendwo hatte das Schiff angelegt,
später, und irgendwo waren sie essen gegangen. Nein, nicht irgendwo,
sondern hier, hier ist es billiger. Für Marios Vater nur einen Brandy
- "Papa hat Magenschmerzen" - ach, Mario kannte diesen Glanz
in den Augen, und er war ja auch lange an der Bar gewesen, unten auf dem
Schiff, der beste Vater der Welt. Von seinem letzten Geld aber -
"Schau nur, meine Taschen sind leer, jetzt bin ich frei!" -
hatte er Mario ein Eis spendiert nach dem Essen - "das größte
und beste, das Sie haben für meinen Sohn!" - doch seltsam, es
hatte einen bitteren Beigeschmack gehabt.
Am
Nachmittag war Papa eingeschlafen, dort drüben, auf der Bank, aber
Mario war mit seiner Mutter, seiner traurigen Mama, in den Ort gegangen,
und da hatten sie ein leeres Karussell entdeckt, das ein lustiger, dunkelhäutiger
Bursche beaufsichtigte.
"Ein Zigeuner, Mama?"
"So heißt das nicht. Roma, glaub ich."
"Mal fahren, junger Mann? Ganz umsonst, ganz allein?"
Dabei hatte er Mama angesehen, sie regelrecht taxiert. Und dann war da
noch ein zweiter Zigeuner aufgetaucht, nein, ein Roma, kaum älter
als Mario.
"Pass du mal auf so lange, Brüderchen!"
Weg waren sie, die zwei, der Schlaks mit Marios Mama, aber Mario durfte
Karussell fahren, wieder und wieder, so oft, wie in seinem ganzen Leben
nicht, bis, ja, bis sein Vater plötzlich daneben stand und Einhalt
gebot.
"Wo ist deine Mutter? Sag schon! Wo ist Mama?"
Er hob Mario herunter, schüttelte, schlug ihn fast, ließ ihn
los. Auf einmal war alles vollkommen still. Eine Fliege machte sich davon.
Grell brannte die Sonne herab. In weiter Ferne schlug ein Hund an. Wo
ist Mama...
"Hier, hier bin ich doch!"
Wie aus dem Boden gewachsen, die Wangen gerötet, das Haar zerstaust,
Gesicht und Arme triefend nass, so stand sie da. Erleichtert blickte Mario
seinen Papa an, folgte seinem prüfenden Blick. Die Rose! Wo ist -
"Hier, Madame! Sie haben verloren auf dem Weg. Mein Herr, habe die
Ehre.."
Sich tief verbeugend, den rechten Arm mit weit ausholender Geste schwenkend,
machte sich der schlaksige Bursche samt seinem Bruder davon.
Stille, abermals. Ach, es gäbe viel zu fragen...
"Wenn ihr euch auch erfrischen wollt, ihr zwei, da unten ist ein
kleiner Teich!"
Oh ja? Nein, Mario, man muss vernünftig sein, unser Dampfer wartet
nicht.
"Krieg ich denn eine Cola? Bitte Mama, ausnahmsweise, eine große,
eiskalt! Ja? Danke, Mama, du bist die beste Mama der Welt!"
Ja, so
war das mit dem Sommertag. Jetzt, am Abend, liegt Mario in seinem Bett.
Eigentlich ist er todmüde, doch seine Gedanken verweilen bei dem
Schweigen, das zwischen seinen Eltern war. Und dieses Wort, wie hieß
es gleich? Sorgerecht. Ob sie ihm das erklären können?
Wenn Mario den Kopf nach links wendet, erblickt er hinter dem Rollo ein
schmales Stückchen Himmel, mit Sternen übersät. Papa, Mama...
Woher kommen die Sterne? Warum fallen sie nicht herunter? Wie viele Sterne
gibt es überhaupt? Ist die Sonne auch ein Stern, und der Mond, und
die Erde? Die Erde ist ein Planet. Was ist ein Planet? Es war ein schöner
Tag heute, Papa.
Kommst du wieder? Bleib doch bei uns, Papa, bitte. Und wenn ich bete,
lieber Gott? Du kannst doch alles möglich machen, alles. Ich will
auch brav sein jetzt und schlafen.
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