Der letzte
Traum
von Charlotte Brozzo
Peter
Stammer lag in seinem schmalen Krankenhausbett. Er schwitzte wie immer,
nachdem der Arzt ihm die Spritze gegeben hatte, die seine furchtbaren
Schmerzen wenigstens für einige Stunden betäubte.
Er sah zu seinem Nachtschrank, auf dem noch sein Abendbrot stand: eine
dünne Scheibe Brot mit Butter und eine Tasse mit Milchsuppe. Erika, seine
Frau hatte ihn gedrängt, doch einige Happen zu essen und ein paar Schlucke
zu trinken.
Hunger
hatte er keinen und Appetit schon gar nicht. Er legte seine Arme oben
auf die Decke, so war es etwas kühler. Er dachte an Erika, die ihn täglich
besuchte. Seit Wochen schon. "Sie wird immer blasser" dachte Peter, "aber
sie lässt sich nichts anmerken."
Immer versuchte sie, ihn aufzuheitern, indem sie ihm kleine Geschichten
von Kathrin erzählte. Ach ja, Kathrin, seine zwölfjährige Tochter. Auch
sie kam ein oder zweimal in der Woche zu ihm ins Krankenhaus. Sie bemühte
sich dann immer, ganz leise und ruhig zu sein.
"Dieser Irrwisch", dachte der Vater, "immer in Bewegung und für jeden
Unsinn gut."
Aber
böse sein konnte er ihr nicht, wenn sie ihn mit großen Augen ansah.
Die Tür öffnete sich und Schwester Susanne kam herein, um das Geschirr
abzuräumen.
"Sie haben ja schon wieder nicht aufgegessen", sagte sie vorwurfsvoll.
Peter Stammer sah sie entschuldigend an: "Aber ich habe doch etwas gegessen,
und ich verspreche Ihnen, morgen das Frühstück, esse ich ganz auf!"
" Wir werden sehen", antwortete die Schwester. Sie schaltete das
Licht über dem Kopfende des Bettes an und ging mit den Resten des Abendessens
hinaus.
Peter
war allein. Später würde noch die Nachtschwester kommen und ihm seine
Schlaftablette geben. Wenn er Glück hatte und die Schmerzen nicht all
zu schnell wiederkamen, könnte er bis zum frühen Morgen durchschlafen.
Wenn er Glück hatte ! Er sah aus dem Fenster. Der tagsüber blaue Himmel
überzog sich allmählich mit grauschattigen Schleiern. Bald würde es ganz
dunkel sein. Ob er heute Nacht mal einige Sterne sehen könnte?
Vielleicht könnte die Schwester sein Bett ganz nahe ans Fenster stellen.
"Ach was", rief er sich zur Ordnung, "mit der Tablette schlafe ich und
dann ist es gleichgültig, Sterne oder nicht!"
Er
hätte sich gerne einmal umgedreht, aber jede Bewegung konnte die Schmerzen
wieder hervorrufen. So blieb er unbeweglich auf dem Rücken liegen. Verging
die Zeit langsam oder schnell? Peter Stammer hatte fast kein Zeitgefühl
mehr. Hell und dunkel, Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, Fiebermessen,
Untersuchungen, Spritzen, Tabletten, Bettenmachen, kurzes Aufstehen zum
Waschen und zur Toilette, das waren seine Fixpunkte, an denen er die Zeit
maß. Und Erikas und Kathrins Besuche. Es war jetzt fast dunkel geworden
und das Licht über seinem Bett mühte sich vergebens, Helligkeit vorzutäuschen.
Ab
und zu war eine Schwester hereingekommen, hatte ein paar Worte gesagt
und war wieder gegangen. Irgendwann später wurde die Tür geöffnet. Helles
Licht fiel ihm schmerzhaft in die Augen. Schwester Hanna, die Nachtschwester
trat herein, und mit der Heiterkeit, die wohl alle Krankenschwestern an
sich haben sagte sie: "So, Herr Stammer, da bin ich mit Ihrem Schlaftrunk".
Dabei nahm sie aus einem kleinen Behälter eine längliche, rosafarbene
Tablette. Dann goss sie Apfelsaft in ein Glas und stellte alles auf den
Nachtschrank.
"Ein
Schlaftrunk aus Rum und heißem Wasser wäre mir lieber" , scherzte Peter.
Schwester Hanna lachte und sagte fröhlich: "Aber nicht hier im Krankenhaus.
Da müssen Sie schon wieder gesund werden. Aber dann dürfen Sie!"
Sie schüttelte sein Kopfkissen auf, dann gab sie ihm Tablette und Glas
in die Hand, wobei sie ihn aufrichtete und stützte. Peter schluckte die
Tablette und trank das Glas leer. Er legte sich aufseufzend zurück. Schwester
Hanna löschte das Licht über dem Bett: "Gute Nacht, schlafen Sie gut bis
morgen früh." Im Hinausgehen schaltete sie auch das große Licht aus.
Peter
sah zum Fenster, das nun ein dunkelgraues Quadrat war. Er hatte, seitdem
er in diesem Einzelzimmer lag, darum gebeten, die Vorhänge nicht zuzuziehen,
denn hier oben im achten Stock sah keiner mehr ins Fenster hinein. Er
liebte diese Zeit zwischen Wachen und Schlafen.
Er liebte es, seine Gedanken wandern zu lassen, dabei Bilder und Figuren
zu sehen, schillernde und schimmernde Farben, die auf und abwallten.
Er sah Gesichter und Menschen, viele Menschen. Sie standen alle in einer
Reihe und bewegten sich langsam vorwärts. Nahe vor ihm standen Erika und
Kathrin aber auch viele Bekannte und Unbekannte. Er sah sich um und blickte
über eine unendlich lange Reihe von Menschen.
Er konnte weder Anfang noch Ende sehen, und alle gingen langsam voran.
Sie kamen irgendwo her und gingen irgendwo hin.
Plötzlich
sah er neben der Menschenreihe in kurzen Abständen Gestalten stehen. Sie
sahen aus wie riesige schwarze Vögel mit großen Schwingen. Erschreckend
aber war für Peter, dass diese Gestalten sich aus der Menschenreihe alle
paar Augenblicke einen herauszogen. Sie umarmten ihn mit ihren Schwingen.
Dann drehten sie sich um und wenn sie sich zurückdrehten, war der Mensch
verschwunden. Manchmal, wenn auch selten, zogen sie einen hervor, streiften
ihn mit den Schwingen und schoben ihn wieder in die Reihe zurück.
Mit Entsetzen
sah er plötzlich, dass einer dieser Vögel Kathrin aus der Reihe zog. Er
schrie auf. "Nicht Kathrin, lasst sie doch, sie ist doch noch ein Kind,
bitte, nehmt mich dafür! Bitte, bitte!" und er streckte die Arme aus,
als wolle er sie festhalten.
Der Schwarze sah zu Peter hin. Dann schob er langsam Kathrin wieder in
die Reihe. Der Mann konnte sich nicht mehr bewegen. Er fühlte, wie er
herausgezogen wurde und wie ihn die Schwingen umschlossen. Einen kurzen,
lächelnden Blick konnte er noch auf seine Tochter werfen, dann versank
er im Nebel.
Am
nächsten Morgen rief der Arzt aus dem Krankenhaus bei Erika an und sagte
ihr, dass ihr Mann, Peter Stammer, in der Nacht für immer eingeschlafen
sei. Erika machte sich sofort auf den Weg in die Klinik. Dort erwartete
sie Schwester Hanna, die sie voller Mitgefühl ansah. "Gestern Abend haben
wir noch ein wenig gescherzt" , sagte sie und fuhr fort; "aber als ich
gegen Mitternacht noch einmal nach ihm sah, atmete er nicht mehr.
Ich benachrichtigte sofort den diensttuenden Arzt." Dann setzte sie
noch hinzu: "Er sah so friedlich aus. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln,
als hätte er gerade einen wunderschönen Traum geträumt."
|