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Zur Ruhe kommen 3



 

 

 

nachdenken -
über das Leben
was ist uns wichtig?
worauf kommt es an?


Foto Gertrud Everding/Literadies

     

Zur Ruhe kommen 1

Zur Ruhe kommen 2

   

 

Die Spaßgesellschaft

von H-W. Ecker

Wir amüsieren uns,
doch möglichst nicht zu Tode;
denn seine stete Gegenwart ist es,
die uns unterschwellig ängstet
in unsrer Augenblicksbezogenheit.

Im Stroboskoplicht
schummriger Lokale
ersticken wir
die leise Stimme der Vernunft.

´Der gestirnte Himmel über uns'
ist in der Nacht der Ignoranz verschwunden,
von Stars und Starlets unsrer Zeit ersetzt.
In solchen wechselnden Idolen
meinen wir, das Himmlische gefunden.

Tonangebend ist bei uns die Prominenz:
die Stars der Medien,
die Reichen und Geschönten.
In ihren großen Roben
auf dem Laufsteg ihrer Eitelkeit
meint sie, wo sie ist,
sei doch immer oben.

 


Ihr Geld regiert und korrumpiert die Welt;
sie preist sich selbst in Galas, Partys und bei Spielen;
selbst ihre Tombolas und Spenden zielen
in lässiger Bescheidenheit
auf Reproduktion der eigenen Bedeutsamkeit.

Und die hohen Festspielshows
an der Salzach und auf dem Grünen Hügel
rufen laut nach Jedermann,
der, trotz aller Pauken und Trompeten,
ihrem Ruf nicht folgen kann;
ihm fehlen die Moneten.

Auch unsre Spaßgesellschaft kennt
ein Oben und erst recht ein Unten.
Oben lebt der Uberfluss,
unten hartzlicher Verdruss.
Wir alle aber woll'n uns amüsieren,
uns nicht in Tristesse und Langeweile,
nicht in Zweifeln an uns selbst verlieren.


Und in der Furcht,
was zu verpassen,
gern wir uns entrücken lassen
von den halluzinogenen Wogen
des Alkohols und der andern Drogen
in den Taumel der Exstase,
in dem wir traumverloren
uns fühlen schluck- und tablettenweise neu geboren.

Erlebnisgeil und lustbesessen,
ohne Heil und selbstvergessen,
zweifelsfern bemüht zu lächeln,
doch einsam in der namenlosen Masse
tanzen wir am Abgrund
unsrer eigenen Leere.

H. W. Ecker (08/2008)

 

   

Der Andere

von Claus Günther

Hallo? Weiß zufällig jemand, wo der Andere steckt? Nein? Meistens taucht er ja nur kurz auf ... Es ist lange her, dass ich ihn entdeckt habe. Anfangs war ich keinesfalls sicher, ob er mich zuerst gesehen hat - oder ich ihn.
Der Andere. Ein Phantom? Ein Hirngespinst?
Einmal, bei einem Fußballspiel, entdeckte ich ihn neben dem Torwart von Hannover 96. Danach sah ich ihn monatelang nicht und hatte ihn fast vergessen. Aber als ich vom Rad gestürzt war, sah ich ihn direkt vor mir. Ich konnte nicht aufstehen und flehte ihn an, mir zu helfen, aber der Andere beobachtete mich nur, und als Leute kamen und bald darauf ein Krankenwagen, der mich ins Spital brachte, war er längst entschwunden.
Langsam wurde mir das unheimlich. Was für ein Typ war der Andere, was wollte er von mir, warum sprach er nicht? Ist er mein - Schutzengel? Habe ich ihn leibhaftig gesehen? Ich schloss die Augen und versuchte, mir den Anderen vorzustellen. Er ist ... sehr hager, hohlwangig, von unbestimmbarem Alter und - grau. Grau ist sein Mantel, grau sind die Schuhe und grau ist der Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hat.
Ein Schutzengel sieht anders aus. Obwohl ich nicht ängstlich bin, überläuft mich eine Gänsehaut. Der Andere ... Draußen habe ich ihn plötzlich vor Augen, hinter mir, nein, drüben im Gebüsch, jetzt hier an der Ampel, neben mir im Supermarkt - ! Er war´s nicht, nein, nein, Gott sei Dank nicht. Nachts träume ich von ihm, wache schweißgebadet auf, sehe ihn in meinem Zimmer! Ich lasse mir Beruhigungsmittel verschreiben. Sie wirken nicht. So geht es nicht weiter. Ich muss herausfinden, was der Andere im Schilde führt. Aber wie?
Ich wagte nicht, Menschen ins Vertrauen zu ziehen, die mir nahe standen, benahm mich ihnen gegenüber vielmehr betont harmlos, erzählte meinem Bruder beiläufig, dass ich mir ein neues Auto kaufen will.
"Und was sagt der Andere dazu?", fragte er und lächelte süffisant.
"Welcher - welcher andere? Ach so, der! Na, der findet das ganz in Ordnung."
Ich tat, als hätte ich ihn verstanden, doch ich weiß nicht, wen er gemeint hat, weiß es bis heute nicht! Niemals habe ich ihm von dem Anderen erzählt, nicht einmal andeutungsweise!
Dann wurde meine Kur genehmigt. Endlich! Raus aus der gewohnten Umgebung, andere Menschen, andere Landschaften! Ich erholte mich, fühlte mich prächtig. Ging wandern, wandern mit den andern ... Es passierte an einem Steilhang. Der Boden war glitschig, ich rutschte ab, bekam über mir eine Baumwurzel zu fassen, eine dünne Baumwurzel, ich hing über dem Abgrund - und erblickte den Anderen. Er streckte mir die Hand entgegen - und zog sie zurück: Im letzten Augenblick hatte mich ein anderer Wanderer gepackt und hochgezogen.
Meinem Retter hätte ich danken sollen, doch ich zitterte am ganzen Körper, fühlte mich elend und erschöpft.

Ein Bild tauchte auf. Ich bin fünf Jahre alt, turne übermütig auf der Schaukel im Garten meiner Großmutter, greife ins Leere, stürze fast auf eine Steinplatte - und da, da sehe ich den Anderen zum ersten Mal. Aber wieso sieht er heute nicht älter aus als damals? Ich zwinge mich, abzuschalten, doch schon bald nach der Kur fühle ich mich schwächer denn je, und kein Medikament hilft mir. Schließlich lande ich wieder im Spital, mag nicht essen, magere ab, verliere die Lust am Leben, schlafe fast rund um die Uhr.

Und wenn ich wach bin, warte ich - warte, ohne dass ich wüsste worauf. Es passiert nichts, absolut nichts. Ich fange an, das Tageslicht zu hassen, doch zugleich fürchte ich die Dunkelheit.
Eines Morgens, als ich erwache, ist alle Angst verflogen. Als ich die Augen öffne, sitzt der Andere neben mir auf der Bettkante, zum ersten Mal ohne Hut. Welch ein kahler Schädel, denke ich unwillkürlich und spüre, was er fragt:
Erkennst du mich?
Ich nicke.
Dann lass uns gehen, jetzt.
Es ist an der Zeit.

Mai 2010

 

Bild und Text : Gertrud Everding/LITERADIES

 

der morgen kommt
es verlöschen die sterne
noch schläft der morgenwind
doch im osten färbt sich schon
golden der horizont


warum zögerst du?
Fang an -

GE 2007

 
 

 

 

Du sagst.

von Christin von Margenburg

du sagst
sie haben die sonne zerschlagen
hinter dem rücken der eltern

vor deinen augen brannte die hölle
und in dir tastet das herz
nach hoffnungsland

du weinst, sagst du
die tränen der vielen
sie öffnen nur keinen himmel

sie schwemmen die ängste
über unbekanntes
mit verschlossenen lippen

klagelieder werfen

auf die not zwischen vielen
gib mir hoffnung,
sagst du

und ich zerbreche
neben dir
verantwortungs schwer…

© Chr.v.M.



Digitalbild: Gertrud Everding/ Literadies

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Mammutbaum

Gertrud Everding/Literadies

Bildnis des Baumes

von Claus Günther


Ich bin die Stille des Baumes.
Schweigsam umfängt mich der Wind.
Ich bin die Weite des Raumes,
der in den Zweigen verrinnt.


Ich bin im Plan, der entscheidet
was mir geschieht, wo ich steh.
Ich bin im Sommer bekleidet.
Winters bedeckt mich der Schnee.


Ich bin die Wurzel des Strebens,
aufwärts vom Stamm ins Geäst.
Ich bin das Fließen des Lebens.
Himmelwärts halt ich mich fest.


Ich bin das Dunkle und Helle.
Blatt für Blatt wächst mein Gesicht.
Ich bin die Krönung der Quelle.
Ich spende Schatten durch Licht.


Ich bin, weiß Gott, viel auf Reisen,
flieg, wie´s den Wolken gefällt.
Ich bin, den Schöpfer zu preisen,
kosmischer Baum dieser Welt.

   
   

 

Texte von Jürgen Nagorny

Ach ja

Ein schönes Mädchen
sitzt auf dem Fahrrad
und fährt um die Ecke.
Ich habe sie noch gesehen.



Konzept-Art

Ich schreibe immer auf einen Zettel
was ich noch schaffen muss.
Und dann schaff ich's gar nicht.
Aber nun steht es da - auf dem Zettel.




 

 

 

 




Wer bloß?

Die Miesmacher laufen herum
und zetern lautstark:
Auch du wirst eines Tages sterben
Auch du. Auch du.
Das Blöde ist,
dass sie Recht haben.
Aber wer gibt ihnen das Recht,
Recht zu haben?

30.09.2008

 

Die Annonce von Martin Ripp


Über das Jahresende war nicht viel passiert. Er hatte die Artikel nur überflogen. Schon die Schlagzeile war uninteressant: ‚Über hundert Millionen Euro gingen in die Luft.’
Darunter ein Foto explodierender Raketen mit dem Text: ‚Unseren Lesern ein frohes neues Jahr!’
Die wichtigen Politiker waren noch im Urlaub. Nur über den Bundespräsidenten hatte man wieder etwas ausgegraben. Wie langweilig! Da konnte man noch so viel schreiben, der klebt an seinem Stuhl. Offenbar hat er auch eine gute Verbindung zu „Pattex“!
Er schenkte sich Weinbrand, heute morgen schon sein dritter, ins Glas. Seit seine Frau vor zwei Jahren verstorben war, brauchte er ihn, wie andere Zigaretten. Zum Schluss sah er noch – wie jeden Tag – die Todesanzeigen durch. Er hatte schon so manchen Namen ehemaliger Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schulfreunden gefunden. So leid es ihm tat, freute er sich, dass er sie überlebt hatte. Heute gingen die Annoncen sogar über zwei Seiten. Zwischen den Jahren wurde viel gestorben. Die Texte wiederholten sich; es kam ihm so vor, als würden nur die Namen ausgetauscht.

‚Wir betrauern den Tod unserer lieben Oma, die mit 92 Jahren sanft entschlief.’ ‚Mitten aus dem Leben gerissen wurde unser lieber Bruder im 39. Lebensjahr’. Einige waren mit Sprüchen versehen: ‚Tot ist nur der, der vergessen wird’ ‚Der Tod ist Abwesenheit vom Leben’ Oder: ’Warum? Wir hatten noch so viel vor!’

Auf einmal hatte er seinen Namen vor Augen. Er erschrak. Hatte der Alkohol seinen Geist benebelt? Nein, da stand er schwarz auf weiß. Der Vorname mit ‚th’ und der Nachname, was selten vorkam wie bei ihm, mit ‚r’ und nachfolgendem ‚z’ in der Mitte. Er lachte. Welch seltsame Namensgleichheit! Aber als er das Geburtsdatum wahrnahm, fing sein Herz an zu rasen.

Bevor er weiter las, leerte er sein Glas und füllte es wieder auf. ‚Nach einem erfüllten Leben ist er plötzlich und unerwartet von uns gegangen. Die Urnenbeisetzung erfolgte bereits im engsten Familienkreis. Hamburg, im Dezember 2011 Die Hinterbliebenen.’ Er wischte sich über die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. Seine Ehe war kinderlos und nahe Verwandte hatte er nicht mehr!

Er las den Text ein zweites Mal. Jetzt fiel ihm auf, dass der Todestag identisch war mit dem Sterbetag seiner Frau: 26. Dezember 2009. Er griff zum Telefon und verlangte die Anzeigenabteilung der Zeitung. „Eigentlich dürfen wir telefonisch keine Auskunft geben“, sagte eine weibliche Stimme. „In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Verblichenen? - Wie ist Ihr Name?“ Er nannte ihn. „Ach so, Sie sind verwandt mit dem Toten.“
„Nein, ich bin es selbst!“
„Wie bitte? Sie sollten sich schämen! Damit macht man keine Scherze! Der Auftrag kam aus der Schweiz. Mehr darf und will ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiederhören!“

Aus der Schweiz? Er schenkte sich noch nach, nippte aber nur, weil ihm plötzlich schwindlig wurde und die Buchstaben von der Anzeige, von der er nicht lassen konnte, vor seinen Augen verschwammen. "Aus der Schweiz?", wiederholte er. Da kannte er nur die Bank, die sein Nummernkonto verwaltete. Ihm wurde heiß, sein Herz klopfte wie ein Zweitakter. Wollte die an sein Schwarzgeld? Die wusste genau, wegen Steuerhinterziehung würde er sie höchst wahrscheinlich nicht anzeigen. Da kam ihm ein noch ganz anderer Gedanke: Vielleicht war das in der Finanzkrise die neueste Masche? Herztod durch Schock? Das wäre vollkommen risikolos für sie!
Obwohl er noch einen Rest im Glas hatte, schenkte er es bis zum Rand voll und stürzte den Fusel hinunter. „Diese Bangster!“ schimpfte er. „Aber nicht mit mir!“ Woher hatten die überhaupt seine Personalien? Nummernkonten sollten doch anonym sein! Musste er die Daten bei der Kontoeröffnung angeben? Er konnte sich nicht erinnern. Er musste jetzt unbedingt den Vertrag einsehen, stand auf und taumelte zum Schreibtisch. Ihm war kotzübel.

Er versuchte die Schublade zu öffnen. Sie klemmte. Er zog mit beiden Händen. Sie gab nach und er fiel rückwärts, vorher mit dem Hinterkopf den Couchtisch treffend, zu Boden. Die Schublade und herausgeschleuderte Papiere bedeckten seinen Körper. Bevor er das Bewusstsein verlor, murmelte er noch: „Totgesagte leben länger!“


Abends am See

Siehst du? Der Mond geht auf!
Wie lange habe ich ihn vermisst,
den Anblick dunkelblauer Wolkenbänke
mit leuchtendem Rand -

Setz Dich zu mir. Ja, so ist's gut.
Horch, die Weide, wie sie flüstert.
Sie weiß etwas, was wir nur ahnen.
Versteht vielleicht die Enten,
die im Schilf noch leise schnattern -

Dort! Schau! Der erste Stern - die Wega!
Könnt' ich doch mit dir fliegen -
durch die Finsternis -
du und ich - Hand in Hand -
Wie hell sie ist! Sie gibt mir Mut.
Das Licht ist stärker als die Nacht.

Gertrud Everding



Digitalbild und Text: Gertrud Everding

 

 

   
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