Übersicht
Autoren
Jahreszeit
Texte
Wir über uns
Gästebuch
Startseite

Unser politischer
Stammtisch 2


Martin Ripp

 

Humorvolle,
hintergründige
Stammtischgeschichten
von
Martin Ripp

von Nr.7 -

 

7. Der Gast

8. Chaos im Gesundheitswesen

9. Reform- und Gewissenskonflikte

10. Kuddels 5-Tage -Woche

11. Der Kanzler hat noch etwas vor

12. Das Quartals-Syndrom

zurück zum Stammtisch 1

 

weiter zum Stammtisch 3

weiter zum Stammtisch 4

 


 

 

7. Geschichte Juli 2003

Der Gast

An diesem Sonntag waren sie ein Quartett. Ralf hatte seinen Schwager zum Stammtisch mitgebracht. „Das ist Alois aus Hammelburg“, stellte Ralf ihn vor.
Er ist mit seiner Frau übers Wochenende bei uns. Ich habe von unserem Stammtisch erzählt, und er wollte euch unbedingt kennen lernen.“
Kuddel und Walter begrüßten ihn freundlich.
„Hammelburg?“ fragte Kuddel. „Wo liggt dat denn?“
„In der Bayerischen Rhön“, antwortete Ralf. „Deswegen solltest du dich bemühen, Hochdeutsch zu sprechen! Alois versteht kein Platt.“
„Ach, ein Bayer!“ stellte Kuddel fest. „Was sagst du denn zur Steuerpolitik von eurem ‚Wendehals’ Stoiber?“
„Franke!“ berichtigte Alois. „Ich bin ein Franke!“
Ralf lachte. „Ja, da legt der Alois Wert drauf! Es ist auch nicht ‚sein’ Stoiber, er ist nämlich SPD-Wähler!“
„Trotzdem könnte er seine Meinung zum Vorziehen der Steuerreform vertreten“, schaltete sich Walter in das Gespräch ein, und jetzt schmunzelnd zu Kuddel: „Deine E-Mail an Finanzminister Eichel, keine neuen Schulden aufzunehmen, hat ja leider nicht gefruchtet!“

Der Wirt brachte die erste Runde Bier, die der Gast spendiert hatte.
Ralf und Walter prosteten ihm wortlos zu.
Kuddel sagte: „Prost Alois! Auf ein gutes Blatt!“
„Wohlsein!“ wünschte Alois. „Aber wir müssen nicht unbedingt Skat spielen. Wir können ruhig diskutieren. Von der vorgezogenen Steuerreform halte ich gar nichts, weil sie überwiegend auf Pump finanziert werden soll!“
„Unser Reden!“ nickte Walter. „Zehn Prozent weniger Steuern für alle ist sowieso eine Lüge! Die meisten Rentner hätten nichts davon.“
Alois winkte ab. „Die meisten Rentner zahlen doch gar keine Steuern. Und wer nichts zahlt, kann auch nichts zurückbekommen!
Ich ärgere mich aber darüber, dass der Streik abgebrochen wurde. Ich als alter IG-Metaller bin solidarisch mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche für den Osten. Und jetzt diese Niederlage für meine Gewerkschaft!“
„In erster Linie eine Niederlage für die Gewerkschaftsspitze!“ präzisierte Walter. „Das war doch eine große Fehleinschätzung der realen Lage und ein reiner Machtkampf zwischen Ideologen und Pragmatikern. Hinzu kam die Profilierungssucht der Funktionäre!“
„Ja, das musste ja scheitern!“ Kuddel streckte zur Bekräftigung seinen Arm aus und zeigte auf Alois. „Euer Streikplakat hat ja der einfachste Mensch nicht verstanden! – Eine strahlende Sonne, halb versteckt hinter der 35 in großen Zahlen, und darunter die späte Erkenntnis der Gewerkschaft: ‚Im Osten geht die Sonne auf.’ Bertha, meine Frau, dachte, ihr habt für 35 Stunden Sonnenschein in der Woche demonstriert!“
Ralf und Walter lachten. Alois fand das nicht komisch und reagierte verärgert.
„So also habt ihr das über das Fernsehen wahrgenommen?! Das ist eine Frechheit! Wir hatten auch andere Transparente! Ich gehörte schließlich zur Streikwache!“
„Wie bitte?“ Kuddel glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Du hast dich von deiner Gewerkschaft nach Ostdeutschland karren lassen, um die willige Belegschaft von der Arbeit abzuhalten?!

Und hast dafür Produktionsausfälle der Autoindustrie in Westdeutschland in Kauf genommen? Das ist ja---“ Kuddel überlegte einen Augenblick. „Ja, das ist Nestbeschmutzung!“
Alois` Gesicht verfärbte sich rot. „Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht mitgekommen!“
Ralf und Walter reagierten betreten. Aber Kuddel war noch nicht zu bremsen. „Erst machst du dich wichtig als Streikposten, und jetzt wo dir einer die Meinung sagt, spielst du den Beleidigten! – In mien Oogen büst du keen Franke ut Hammelburg. För mi büst du en Hammel ut Franken!“
„Was hat er gesagt?“ fragte Alois unsicher. „Kannst du das mal übersetzen!“ forderte er seinen blaß gewordenen Schwager auf.
Der überlegte einen Moment lang und blickte seine Kollegen augenzwinkernd und hilfesuchend an, bevor er antwortete. „Kuddel hat sinngemäß gesagt: ‚Die Franken sind tapfere Menschen. Ich bewundere ihren Mut!’“

     

8. Geschichte August 2003

Chaos im Gesundheitswesen


Kuddel hatte als letzter am Stammtisch Platz genommen und betrachtete Walter kritisch, der sich die linke Hand vor den Mund hielt. „Wat is denn mit di los? Kannst du nich spreken? Hest bloots knapp för`n ‚Goden Dag’ dat Muul opreten."
Walter schüttelte den Kopf und zeigte auf Ralf, der sofort lächelnd antwortete: „Stell dir mal vor, Walter hat mir, bevor du kamst, erzählt, dass er sich Freitag alle restlichen Zähne, auch die noch gesunden, hat ziehen lassen und jetzt bis zur Ausheilung auf eine Prothese warten muß. Sein Zahnarzt hatte ihm dazu geraten. Hunderte von Rentnern hätten sich bis zum Jahresende bei ihm angemeldet, weil sie befürchten, ihre Gebisse vom nächsten Jahr an ohne Zuschuß der Krankenkasse bezahlen zu müssen!“
Kuddel tippte sich an die Stirn. „Walter is jo jüst so mall as mien Naver. De will nu mit 84 Johr gau en künstliches Hüftgelenk hebben, üm de Krücken in de Eck to smieten.”
Walter nahm die Hand nur kurz vom Mund, um ein Schluck Bier zu trinken und ungeduldig das Wort ‚Kartenspielen!’ hervorzupressen.
„Jo, wenn du hüüt nich sabbeln kannst, spelen wi naher Skat!“ beruhigte Kuddel ihn.
„Schuld an dieser Verunsicherung hat aber der Vorsitzende der Jungen Union mit seiner menschenverachtenden Polemik!“ sagte Ralf. „Jetzt bekommen wir doch die befürchtete Zwei-Klassen-Medizin. Die Selektion nach dem Lebensalter! Die Unions-Spitze hat sich zwar halbherzig davon distanziert, aber in erster Linie geht es ihr darum, Parteiaustritte zu verhindern.“
„Jo, dat is empörend!“ Kuddel demonstrierte das mit Hochdeutscher Sprache: “Du meinst doch diesen Schnösel! Dem geht es doch nur um die Profilierung. Den kann man doch nicht für voll nehmen! Wer Mistfelder heißt, kann eben nur Mist von sich geben!“
Ralf lachte. „Der Mann heißt Mißfelder! Es herrscht aber ein allgemeines Chaos im Gesundheitswesen. Die Regierung hat den Wettbewerb unter den Kassen gewollt und gleiche medizinische Versorgung versprochen. Zigtausende haben daraufhin von der Barmer, DAK, Schwäbisch-Gmünder und wie sie auch alle heißen, in die beitragsgünstigeren Betriebskrankenkassen gewechselt. Und jetzt haben wir den Salat: Ärzte weisen Patienten aus ‚Billigkassen’ ab, weil die Kopfpauschalen wesentlich niedriger sind.“
„Ja, das stimmt!“ antwortete Kuddel. „Da haben sich hinter mir in der Schlange vor der Kasse bei Aldi zwei Frauen über aufgeregt. Die eine sollte nur behandelt werden, wenn sie privat bezahlt.“
„’Billigkassen’ und ‚Billig-Discounter’ gehören ja auch irgendwie zusammen!“ erwiderte Ralf sarkastisch. „Aber es geht ja noch weiter: Jetzt wollen sie ein Bonus-System einführen. Wer regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen geht und zuerst zum Hausarzt und nicht zum Facharzt, soll einen Teil seines Krankenkassenbeitrages zurück bekommen.“
Kuddel schmunzelte im voraus über seinen Gedanken: „Un wenn du di sülvst den Blinddarm ruutsnittst, kriggst du allens wedder!“Er hob sein Glas Bier an.

„Un nu laat us en Sluck nehmen bi de Afrikanische Hitt“ und lächelnd zu Walter, „Proost op dien ‚Billigkassen-Gebiß!’ Wenn du vundaag nich snacken willst, denn suup tominnst dien Beer, dat bruukst du nich to kauen!

9. Geschichte
Reform- und Gewissenskonflikte


Bevor das erste Bier serviert wurde, mischte Kuddel schon mal die Skatkarten.
„Hüüt glieks spelen oder hebbt ji wat to`n diskutieren?“
„Na sag mal!“ tat Ralf empört. „Wenn wir schon nicht gehört werden, wollen wir unseren Frust wenigstens am Stammtisch loswerden! Nach Stoibers grandiosem Sieg mit Zweidrittelmehrheit bei der bayerischen Landtagswahl und weiterer Stärkung im Bundesrat hat die SPD jetzt auch noch sechs Abweichler in der eigenen Fraktion, obwohl Doktor h.c. Schröder wieder mit einem Rücktritt gedroht hatte.“
„’Abweichler’ ist milde ausgedrückt“, erwiderte Walter.
„Einige nannten sie Verräter an der SPD. Von Franz Müntefering wurden sie als feige und kleinkariert bezeichnet, nur weil sie nicht für die ’Gesundheitsreform’ gestimmt haben, die diesen Namen ja nun wirklich nicht verdient hat! Ein Hamburger Abgeordneter verlangte sogar, dass sie ihre Mandate zurückgeben sollten. Dabei steht doch im Grundgesetz:

‚Die Abgeordneten des deutschen Bundestags
sind Vertreter des ganzen Volkes,
an Aufträge und Weisungen nicht gebunden
und nur ihrem Gewissen unterworfen.’

Die kennen offenbar den Artikel 38 nicht!“
„Aber im Koalitionsvertrag mit den Grünen steht etwas von Fraktionszwang“, entgegnete Ralf.
„Fraktionszwang!“ wiederholte Kuddel verächtlich. „Dat Geweten steiht över allens! Dor sitten to veel verkehrte Lüüd! Wenn du en Geweten hest, hest du in der Politik nix to söken! Machterhaltung un Geweten passen nienich tosamen! De harrn mi in den Bundestag halen schüllen, ik harr jem al verklookfiedelt, wo dat lang geiht!“

Ralf lachte. „Selbst die Parteilinke in der SPD verlangt Kurskorrekturen. Bei der Durchsetzung aller Punkte der ‚Agenda 2010’ muß der Kanzler jetzt jedes Mal mit Rücktritt drohen. Wo bleibt denn da die Glaubwürdigkeit?“
„Glaubwürdigkeit?“ reagierte Kuddel jetzt wütend. „Dat is Erpressung!“
„Ruhig Blut, Kuddel!“ beschwichtigte Walter. „Du bekommst noch deine Chance! Im November wird über eine Nullrunde für Rentenempfänger entschieden. Dafür muß er nicht mit Rücktritt drohen! Rentner haben nämlich keine Lobby! Die Werbewirtschaft hat uns ausgeschlossen, weil wir über neunundvierzig sind, der ADAC protestiert- obwohl wir auch fast alle Autofahrer sind-, nur gegen die geplante Kürzung der Pendlerpauschale, und die erwerbstätige Bevölkerung stöhnt, dass sie für uns so viel in die Rentenkasse einzahlen muß und wir die Unverschämtheit besitzen, so alt zu werden! -
Dagegen können wir uns nur bei der nächsten Wahl mit dem Stimmzettel wehren, indem wir keine der etablierten Parteien wählen!“
„Aber wo willst du denn dein Kreuz machen?“ fragte Ralf „Eine ‚Rentnerpartei’ und ‚Graue Panther’ gibt es schon.“
„Kein Problem!“ Walter schmunzelte. „Wir drei gründen eine neue Partei und nennen sie: ’
PFEG’“
„Wat schall dat denn heten?“ fragte Kuddel.
’Partei für echte Gewissensfreiheit’.
Wäre doch gelacht Kuddel, wenn du nicht als anzlerkandidat gegen Schröder und Stoiber bestehen könntest!“

10. Geschichte
Kuddels 5-Tage-Woche



entschiedener Protest„Wer hätte das gedacht?“ fragte Walter. „Letzten Sonnabend sind in Berlin 100.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die ‚Agenda 2010’ zu protestieren.“
Ja, wer hätte das gedacht“, wiederholte Ralf. „Eine Demonstration gegen die Rot/Grüne Regierung, die doch eigentlich das Wort ‚Gerechtigkeit’ auf ihre Fahnen geschrieben hat.“
„De hollen dat doch in!“ erwiderte Kuddel trocken. „Gerechte Belastung bloots för de lütten Lüüd!“ Der Wirt hatte die Getränke gebracht und sie prosteten einander zu, bevor Kuddel lachend ergänzte:“Wi sünd jo froh, wenn wi uns dat Beer noch günnen könen!“

„Aber sie haben ja schon in Brandenburg einen Denkzettel bekommen“, sagte Walter. „Ein Minus von 15 Prozent für die SPD, bei nur noch 46 Prozent Wahlbeteiligung.“
„ Für mich ist das keine so große Überraschung bei dem Hin und Her, das da geboten wird!“ entgegnete Ralf. „Rente erst mit 67, dann wird wieder zurückgerudert, und es soll von einer Lebensarbeitszeit von 45 Jahren ausgegangen werden. Arbeitszeit verlängern! Sogar der Pfingstmontag soll als Feiertag abgeschafft werden. Dann das Gegenteil: Arbeitszeit verkürzen! Und große Firmen setzen das sofort in die Tat um. Opel will jetzt im Stammwerk Rüsselsheim die 30-Stunden-Woche einführen. Die Telekom will 40.000 Stellen abbauen. Es sitzen bereits 5.900 Mitarbeiter bei vollem Gehalt zu Hause rum, weil es für sie keine Arbeit mehr gibt. – Bei so vielen Widersprüchen sind die Wähler mit Recht verunsichert und verweigern sich!“

„Jo!“ bestätigte Kuddel. „Dat is allens dumm Tüüg! Veele Politiker wüllen sik doch bloots wichtig maken un inne Öffentlichkeit rumposaunen. De snackt fixer as se denken könen!“
Walter lachte. „Das fängt mit der Gesundheitsreform im Januar 2004 an. Wenn ein Arzt 500verschiedene Patienten im Quartal hat, nimmt er 5.000 Euro Praxisgebühr ein, von der er aber nichts hat, weil sie von den Krankenkassen am Quartalsende gekürzt wird. Die rechnen sogar damit, dass viele nur jedes zweite Quartal zum Arzt gehen, um die 10 Euro zu sparen. Andere kommen wegen einer Erkältung nicht mehr in die Praxis, sondern gehen gleich zum Apotheker, um sich für die beim Arzt gesparten 10 Euro ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament zu kaufen.“

„Dat kann bloots beter warrn!“ beruhigte Kuddel. „Nu kummt de groote Macker Friedrich Merz von der CDU. Dree Stüürperzenten hett he in sien Konzept. 12, 24 un 36 Perzent. Aver de Lüüd sind jo plietsch! Keeneen will 36 Perzent Stüürn berappen. Nu geiht dat Jachtern op de Billig-Jobs los. Un de CDU kriggt en Problem : Wokeen makt de qualifizierte Arbeit! Mi is dat jo schietegaal. För miene Rente betahl ik jo keene Stüürn. De Hauptsache is, dat se rechttiedig op`n Konto steiht!“
„Das ist auch nicht mehr sicher!“ erwiderte Ralf. „Wenn die einen Liquiditäts-Engpaß haben, kann die Rente durchaus mal später kommen.“

„Mann in de Tünn! Denn schüllen se leever `ne radikale Reform maken un nich bloots den Pingst-Maandag, sondern all Maandaag strieken. Denn kümmt achter Sünndag glieks Dingsdag un wi hebbt `ne 'echte' Fief-Daag-Woch!“

11. Geschichte
Der Kanzler hat noch etwas vor“


Der Kneipenraum war mit Tannenzweigen dekoriert worden und auf ihrem Stammtisch stand sogar ein Adventsgesteck mit einer dicken roten Kerze. Bevor sie ihr Bier bestellen konnten, hatte der Wirt ihnen schon einen Glühwein spendiert. „Dat is jo as op’n Wiehnachtsmarkt!“ lästerte Kuddel. „Bloots de Stimmung is nich fierlich. De Sozis un de Gröönen hebbt dat mit de ’Agenda 2010’ utklamüüstert un nu warrn se im Bundesrat utbremst.“
„Die finden schon einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss“, antwortete Ralf, und jetzt lachend: „Wart mal ab, nächstes Jahr gibt es vielleicht doch noch eine Rentenerhöhung!“
„Was sagt ihr denn zu Gerster und dem 1,3-Millionen Beratervertrag?“ fragte Walter.
„Das passt doch alles zusammen!“ meinte Ralf. „Gehaltsverdoppelung, ein neues teures Arbeitszimmer, Verschwendung von Beitragsgeldern für Öffentlichkeitsarbeit und dafür Einschränkung der ABM-Maßnahmen und Kürzung der Unterstützungsleistungen!“
„Öffentlichkeitsarbeit för `ne Behörde, wenn ik dat al hör!“ ereiferte sich Kuddel. „De möten de Arbeitslosen vermitteln un nich verwalten! De Gerster wull doch bloots sien egen ‚Immitsch’ verbetern!“
„Öffentliche Gelder werden doch überall verschwendet, stellt der Rechnungshof jedes Jahr wieder fest.“ Walter winkte dem Wirt, die Biere zu bringen. „Selbst der Maastricht-Vertrag wird nicht eingehalten. Schulden über Schulden! Und Finanzminister Eichel, der sich bei seinem Haushalt so ungeheuerlich verrechnet hat, dass er in der privaten Wirtschaft fristlos gefeuert worden wäre, wird vom Kanzler noch gelobt. Dabei steht doch die Euro-Stabilität auf dem Spiel!“
„Schiet an ‚Teuro’!“ schimpfte Kuddel. „Bertha verdoppelt jümmers noch de Preise un oft seggt se: ‚Dat koopt wi nich, de hebbt bloots de Währung uttuuscht!’“
Walter lachte. „Da gehört deine Frau zu den siebzig Prozent der Deutschen, die Preisvergleiche auf DM-Basis vornehmen.
Unser Kanzler hat ja ein Gespür dafür.
Jetzt wird er einen sensationellen Coup starten!“
Walter holte einen kleinen Zeitungsausschnitt hervor und las: ’“Der Kanzler hat noch etwas vor. Bundeskanzler Gerhard Schröder denkt noch lange nicht ans Aufhören.

Ihm mache das Amt Freude, und schließlich habe er noch etwas vor.’– Na Kuddel, dämmerts bei dir?“
„Jo, dat is doch kloor! He will an de Macht blieben! De SPD is bi sössuntwintig, un söventig Perzent sünd gegen den Euro. Uns Kanzler hett wat vör: Den Euro to`n Düvel jagen un de Dütsche Mark trüchhalen! Dat ward nächstes Maal en gigantischer Wahlsieg un de Sozis köönt sogar alleen regieren!“


12. Geschichte
Das Quartals-Syndrom

Nachdem sie sich ein frohes neues Jahr gewünscht und mit dem Wirt das obligate von ihm spendierte Glas Sekt getrunken hatten, sagte Kuddel unvermittelt: „Utverschaamt! Ik mutt dörtig Euro mehr an miene Krankenkasse betahlen un wenn ik to`n Dokter gah, will he ook noch teihn Euro Praxisgebühr in`t Viddeljohr vun mi hebben! Dat nennt se nu Gesundheitsreform. Ik bün stinksuur!“
„Laß das Stöhnen!“ erwiderte Ralf. „Denke an den Brief vom Bundesgesundheitsministerium. Ich habe ihn für Walter mitgebracht, weil er zu den bemitleidenswerten Rentnern gehört, die mit der gesetzlichen Rente auskommen müssen.“
„Wat för een Schrieben?“ war Kuddel erstaunt. „Ik heff nix kregen!“
„Dann haben sie dich vergessen. Hört mal beide zu.“ Ralf holte einen Briefumschlag aus seiner Tasche, und meinte, indem er das Schreiben herausnahm: „Das ist wirklich ein verspäteter Silvesterscherz!

Sehr geehrte/r Rentner/in

zunächst möchten wir Ihnen ein frohes und gesundes neues Jahr wünschen, wobei wir auf das Wort „gesund“ noch zurückkommen werden, da Sie Ihre Gesundheit selbst steuern können!
Sie gehören zu der sich glücklich schätzenden Gruppe, die eine Betriebsrente erhält. Im Rahmen der Gesundheitsreform müssen Sie dafür ab Januar den vollen Krankenkassenbeitrag abführen. Verschiedene Medien versuchen Sie jetzt gezielt aufzuhetzen und stellen das als ungerecht dar. Das ist es überhaupt nicht! Im Gegenteil: Ungerecht ist, dass sechzig Prozent der Rentner dieses Privileg nicht haben und gerne diesen Beitrag zur Sanierung der Kassen leisten würden, wenn sie denn eine Betriebsrente bekämen!

Auch über die Praxisgebühr sollten Sie nicht verärgert sein, sondern überlegen, ob Sie wirklich in diesem Quartal zum Arzt müssen oder den Besuch bis zum nächsten Quartal aufschieben können. Teure Zuzahlungen auf Medikamente können Sie dann einsparen.
Langzeitstudien mit Placebos haben ergeben, dass die in vielen Fällen den gleichen Erfolg bringen. Achten Sie nur darauf, dass sie Ihren bisherigen Medikamenten in Aussehen und Geschmack gleichen. Wir denken hier an Pfefferminzdragees oder wegen ihrer Buntheit auch an Smarties.
Ihren Blutdruck und Cholesterinspiegel können Sie senken, indem Sie statt Energie zu verschwenden, welche verbrauchen! Gehen Sie nachmittags spazieren anstatt zwei Stunden vor dem Fernseher zu verbringen und sich mit Kuchen voll zu stopfen! Wenn Sie das beherzigen, wird 2004 für Sie nicht nur ein gesundes, sondern auch ein „billigeres“ Jahr werden als 2003!

Mit freundlichen Grüßen Ihr Gesundheitsministerium’“

Walter lachte herzhaft. „Das ist geschickt gemacht! So kann man Murks auch verkaufen!“
„Geschickt?“ fragte Kuddel mit einem gefährlichen Unterton. „Dat is driest!
Dat is Volksverdummung! De köönt froh sien, dat se mi nich anschreven hebbt! Mi kümmt glieks de Galle hoch!“
„Die Mitarbeiter der Commerzbank können den Krankenkassenbeitrag ja bald sparen!“ bemerkte Walter sarkastisch. „Wo die Bank jetzt die Firmenrente gekündigt hat. Nur der Vorstand ist ausgenommen. Die Spitzenmanager haben bereits im Januar 2003 ihre eigenen Pensionen gegen eine eventuelle Insolvenz des Unternehmens abgesichert. – Dass die sich nicht schämen!“
„Jo, in Grund un Boden!“ schimpfte Kuddel. „De Lüüd schüllt ut Protest ehr Konten bi de Commerzbank kündigen!“
„Nein!“ widersprach Walter. „Das wäre keine Lösung, dann würden die Mitarbeiter auch noch arbeitslos werden!“
Ralf nickte zustimmend und sagte nachdenklich: „Ich war Anfang Januar mit meinem Hund beim Tierarzt. Harras schlug nicht mehr an, zuckte bei jedem Geräusch zusammen und sprang in die Höhe. Ihr glaubt gar nicht, wie voll die Praxis war.“
„Mein Nachbar war auch mit seiner Katze da“, entgegnete Walter.
„Die miaute auf einmal nicht mehr, sondern gab Geräusche von sich wie ein Luftheuler. Das sei das ‚Silvester-Syndrom’, hat der Arzt gesagt. Die Tiere seien durch die Böller und Raketen verschreckt.“
„Seltsamerweise waren aber auch Leute ohne Tiere da und ließen sich selbst behandeln“, fuhr Ralf lachend fort. „Denn das haben sie in dem Schreiben nicht erwähnt: Die Tiermediziner sind die einzigen Ärzte, die keine vierteljährliche Praxisgebühr kassieren!“
Walter lächelte und schüttelte den Kopf. Kuddel blieb ganz ernst und sagte:“Goot, dat du dat vertellst, dann will ik ook de teihn Euro sporen. Ik nehm mi dat ‚Quartals-Syndrom’ un fang bi'n Veehdokter an to bellen!“

 

     

nach oben

zum Stammtisch 1

zum Stammtisch3

zum Stammtisch4

Übersicht
Autoren
Jahreszeit
Texte
Wir über uns
Gästebuch
Startseite