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Damals 2

Die Äpfel unserer Kinderjahre . . .

Tor zum Schlosspark
in Krumke (Altmark)

wo der "Alte Fritz" noch
spazieren ging . . .


Foto: Gertrud Everding/Literadies

Am Kainsprung erzählt von Brunhild Kollars

Das Dorf liegt weit hinter mir, da taucht die Senke auf, die von Ahornbäumen, mächtigen Eichen und uralten Linden umgeben ist. Hier liegt die Quelle Kainsprung, nach einer Legende benannt. Schon immer zog sie mich magisch an, wenn ich in der Heimat weilte und sie auf dem Weg zum Wald vor mir lag. Durch Gestrüpp, Brombeerranken, mannshohe Brennesseln und Disteln kämpfe ich mich zu dem Gewässer durch. Starker Duft verschiedenster Kräuter, überwiegend Pfefferminze und Anis hängt in der Luft.
Dämmerlicht umfängt mich, die ausladenden Zweige lassen kaum einen Sonnenstrahl durch. Licht- und Schattenspiele schaffen eigenartige Reflexe auf dem undurchsichtigen Wasser mit der grünblauen Farbtönung, die einmalig, mindestens aber selten ist.
Vorsichtig bewege ich mich vorwärts auf dem von Wurzeln durchwachsenen düsteren Pfad. Traurige Geschichten fallen mir ein von Selbstmördern, die hier in dem abgrundtiefen Wasser ihrem Leben ein Ende gesetzt haben, keinen Ausweg aus ihrer Not wussten. Mich fröstelt trotz des heißen Sommertages. Wir Menschen neigen dazu, ganz natürliche Stellen, an denen Grausames oder Unverständliches sich zutrug, mystisch zu verbrämen, ihnen unheilvolle Bedeutung zu geben. So erging es auch dieser Quelle, die jahrhundertelang den Menschen Furcht einflößte, welche heute noch nicht ganz überwunden ist. Eine Tragödie erschütterte die Menschen in meiner Heimat, machte sie nachdenklich.
Sie geschah Anfang der 20er Jahre. Lange Zeit war sie das Gesprächsthema der Erwachsenen, sie munkelten und rätselten. Was ich davon als kleines Mädchen erlauschte, werde ich versuchen, wachzurufen.Auf offene Fragen gibt es nun für mich keine Antwort mehr, denn die es miterlebten sind tot. Hanna, eine Freundin meiner Mutter, war ein schönes Mädchen. Sie war groß und schlank, und ihr Haar hatte die Farbe goldenen Weizens, wellig und voll. Dicke Flechten lagen wie eine Krone auf ihrem Haupt. Ihr anziehendes, liebenswertes Wesen löste Wohlgefallen aus. Ein junger Bauer verliebte sich in die Schöne. Betört von seinen Liebesschwüren traf sie sich heimlich mit ihm. Niemand wußte von ihren Zusammenkünften. Ihren wahren guten Freund, der sie wirklich liebte, hinterging sie, vergaß ihn ganz in ihrer Verblendung.

Als sie ein Kind erwartete, zeigte der reiche Bauer sein wahres Gesicht. Unmißverständlich machte er ihr klar, daß er für das Kind bezahlen, sie aber nie heiraten würde. Sein Vater habe ihm eine wohlhabende Braut aus dem Nachbardorf ausgesucht .
Hannas düstere Ahnungen, die sie manchmal überfallen hatten, hauptsächlich in der letzten Zeit, wurden harte Wirklichkeit.
Zutiefst verletzt, zu stolz sich jemandem anzuvertrauen, versuchte sie, allein mit ihrem Schicksal fertig zu werden, aber die Bürde war zu schwer. Sie konnte ihr Geheimnis nicht mehr für sich behalten, schüttete ihr Herz den Eltern rückhaltlos aus. Doch sie stieß auf heftige Vorwürfe und Unverständnis, war so hilflos in ihrer unsäglichen Not. An einem naßkalten stürmischen Novemberabend lief sie, ohne seelischen Beistand gefunden zu haben, wie von Sinnen zum Kainsprung, und stürzte sich in das unheimliche Wasser. Ihr zusammengefaltetes Umschlagtuch, mit einem Stein beschwert, fanden die Suchenden am nächsten Morgen am Rande der Quelle, welche die Leiche erst zehn Tage später nach einem Sturm freigab.

Beklommen verlasse ich die unheimliche Stätte. Das Wasser liegt ruhig und still, weiß nichts vom Leid und Schmerz der Menschen. Jahraus, jahrein speist es unermüdlich die Bäche, die ins Tal fließen.

Fotos: Gertrud Everding/Literadies

 



Wahrheit und Lüge
Eine Schulgeschichte von Charlotte Brozzo


Die siebenjährige Käthe saß am Küchentisch und bemühte sich, die von der Lehrerin vorgeschriebenen Wörter mit Feder und Tinte nachzuschreiben.
Ja früher mit dem Griffel auf der Schiefertafel war es einfach: Schlecht Geschriebenes wurde mit dem Schwamm weggewischt, aber jetzt, mit Tinte ...
Der letzte i-Punkt sah schon wieder aus wie ein kleiner Teich und wenn sie genau hinsah, konnte sie vielleicht den wilden Wassermann entdecken, der die schöne Lilofee freien wollte. Ach, der hatte es gut, unter Wasser konnte er sicherlich nicht schreiben, schon gar nicht mit Tinte.
Käthe seufzte tief, aber da fiel ihr ein, daß eine Mitschülerin ihr erzählt hatte, man müsse nur die Schreibfeder umdrehen, also mit der Rückseite schreiben, dann würden die Buchstaben sehr schön und fein aussehen.Gedacht, getan, die letzten beiden Zeilen schrieb Käthe in der neuen Art und wirklich, wenn die Buchstaben auch noch gerade auf der Linie gestanden hätten, wäre alles sehr schön gewesen.
Fröhlich verspielte sie den restlichen Nachmittag und fröhlich ging sie am nächsten Morgen zur Schule. Fräulein Lehmann, die sie in Schönschreiben, Handarbeit und Musik unterrichtete würde sich freuen und sie loben. Endlich würde sie auch einmal etwas Angenehmes hören, denn auch bei der Handarbeit war Käthe keine Leuchte. Der Topflappen, an dem sie schon ein halbes Jahr strickte, hatte Wellenränder und das weiße Baumwollgarn war dunkelgrau geworden.
Und Singen? Käthe sang gerne, durfte aber nicht im Chor mitsingen, wegen ihrer tiefen Stimme. "Käthe brummt" sagten die Mitschülerinnen.
Zur nächsten Schönschreibstunde betrat Fräulein Lehmann das Klassenzimmer. Sie war eine geduldige und freundliche Lehrerin, die sich viel Mühe mit den kleinen Mädchen gab. Die Kinder schlugen ihre Hefte auf und Fräulein Lehmann ging durch den Mittelgang. Hier lobte sie"gut hast du das gemacht", hier tadelte sie "das sieht aber nicht schön aus, das muß besser werden."
Als sie Käthes Heft ansah, frug sie: Wer hat das geschrieben?" Käthe erschrak, das hatte sie nicht erwartet.
"Ich habe das geschrieben." Fräulein Lehmanns Blick wurde streng und auch ihre Stimme "Das kann nicht sein, sage mir sofort wer das geschrieben hat!" Käthes Herz klopfte vor Angst: "Wirklich, das habe ich . . ich geschrieben." Ihre Stimme zitterte. Sie hatte doch nie gelogen, warum glaubte Fräulein Lehmann ihr nicht?
"Du lügst!" diese Feststellung klang endgültig, "pfui, das hätte ich nie von dir gedacht."
Das Kind wollte etwas sagen, aber die Kehle war wie zugeschnürt. Das Blut schoß ihm ins Gesicht. "Nun wirst du auch noch rot", ertönte die unerbittliche Stimme neben ihr. "Du weißt ja, nur wer lügt wird rot." Käthe spürte die Augen ihrer Klassenkameradinnen fast körperlich auf sich. Keine würde mehr mit ihr spielen, keine mit ihr Oblaten tauschen oder sie zu sich einladen."Wenn du so verstockt bist, muß ich dich ins Klassenbuch eintragen." Käthe hörte nur 'Klassenbuch!' Das war das Letzte was geschehen durfte. Dann würde auch ihre Klassenlehrerin, Fräulein Harten davon erfahren. Bei ihr hatte sie Deutsch, Rechnen, Malen und Heimatkunde. Das waren die Fächer, die ihr Spaß machten. Beim Wettrechnen war sie meistens Klassensiegerin und unter den Diktaten stand fast immer 0 Fehler 1, Schrift 3. Fräulein Harten schalt sie aber nicht, sondern sagte höchstens mal: "Ach Käthe, ich möchte dir so gerne auch mal eine bessere Note im Schreiben geben."
Auch in der Heimatkunde wußte sie immer gut Bescheid und Malen, na ja, aber sie hatte Fantasie und ihrer Bilder waren bunt und lustig.
Nein, bloß keinen Eintrag ins Klassenbuch, dachte das Kind und als Fräulein Lehmann sagte: "Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du die Wahrheit gesagt hast" , überlegte Käthe nur kurze Zeit, dann sagte sie leise: "Meine Schwester hat das geschrieben." Daß sich die wesentlich ältere Schwester um die Schulaufgaben der Kleinen überhaupt nicht kümmerte, danach frug keiner.

Fräulein Lehmann strahlte, sie umarmte das Kind und sagte sehr freundlich: "Siehst du Käthe, nun fühlst du dich doch viel wohler. Die Wahrheit tut immer gut."
Käthe bestätigte das gerne und das war nicht gelogen. Fräulein Lehmann schien froh zu sein, und Käthe wurde nicht mehr mit Fragen gequält.

Der Eintrag ins Klassenbuch unterblieb. Fräulein Lehmann hatte eine verstockte Lügnerin zur Wahrheit zurückgeführt. Und Käthe? - - -
Die hatte jahrelang damit zu tun, Wahrheit und Lüge in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen. Ach ja und noch etwas: In Zukunft schrieb Käthe wieder mit der 'richtigen' Seite der "Brause"-Feder:
Breit und tintig, und Hände, Gesicht und Schürze waren wie vorher - - - tintenverschmiert.

Erlebt im 2.Grundschuljahr 1930/31



Kapusta mit Krustik erzählt von Brunhild Kollars

Backhaus in Niederdorla/Thür.Der Novemberabend war kalt und nass. Zwei Kosaken betraten den Hof ihrer Quartiersleute, blieben vor dem Fachwerkhaus stehen, blickten durch die kleinen Schiebefenster in die von einer Petroleumlampe beleuchtete Stube, die halb von einem großen Webstuhl ausgefüllt war.
Nach den anstrengenden Schießübungen während des Tages freuten sie sich auf die Wärme und das Abendbrot.
Sie gingen hinein, grüßten die Hausfrau Barbara, die zwei große Töpfe mit Kumst(Sauerkraut) und Schweinekleinfleisch auf den gescheuerten Holztisch stellte. Jakob, der Weber, ließ das Schiffchen ruhen, das bis dahin schnell hin-und hergeglitten war, der Essensduft lockte ihn, er hörte auf zu weben. Die drei kleinen Kinder saßen schon artig auf der Bank.
Zwei Knaben brachten dampfende Pellkartoffeln, die Älteste, Susanne, stellte die aus Ton gebrannten Teller auf den Tisch. Die Großmutter rückte das Spinnrad zur Seite, und erst, als sie sich bedächtig auf dem dritten der vorhandenen Stühle niedergelassen hatte, die Eltern auf der Settel, (aufklappbare Bank) und das Tischgebet gesprochen war, begannen alle genußvoll zu essen. Die Kosaken lobten in ihrem Kauderwelsch das Sauerkraut. Später versuchten sie sogar, mit den Kindern russische und deutsche Volkslieder zu singen.Sie waren alle recht vergnügt an diesem Abend. Nicht immer hatte Jakob Grund, zufrieden zu sein, wie dieses Jahr, in dem die Ernte üppig ausgefallen war. Er dachte an den verregneten Sommer des letzten Jahres. Es wuchs nicht genug für Mensch und Tier, die Kartoffeln waren zum großen Teil verfault.
Viele Dörfer in Thüringen gingen hart an einer Hungersnot vorbei. Nach diesem Notjahr hatte der Weber jetzt schon ein Schwein schlachten lassen. Eigentlich hätte es noch ein paar Wochen Speck ansetzen sollen.
Jakob und Barbara bewirtschafteten einige Morgen gutes Ackerland, sie besaßen eine Milchkuh, Ziegen, Hühner, Gänse und zwei Schweine. Jedes Jahr verkauften sie ein Kalb, das brachte zusätzlich zur Leineweberei Bargeld.
Die Mutter zog in dem großen Garten Gemüse und Obst, mit Hilfe der größeren Kinder, die neben der Schule ihre aufgetragenen Pflichten ohne Murren willig erfüllten.
Ständige Abgaben an die Landesherren, die vielen Einquartierungen aus Österreich, Frankreich, Preußen und Rußland vor und nach den Befreiungskriegen, belasteten Jakob und die anderen Familien im Ort schwer. Ein hohes Maß an Arbeit und Mühsal mußten sie bewältigen, um durchzukommen.

Seit altersher war es üblich, dass die Eintopfgerichte der Dorfbewohner in der Nachwärme des Steinbackofens im Gemeindebackhause (Bild rechts) gegart wurden. So sah man eines Tages Martin und Johannes, die Söhne des Webers, mit dem Handwagen, auf dem wieder zwei große Töpfe mit Kumst standen, nach Hause trecken. Aber diesmal nörgelten die Kosaken beim Abendbrot, fluchten und radebrechten: " Wo ist Krustik, wir wollen Kapusta mit Krustik!"Fast hätten Barbara und Jakob laut gelacht, sie hielten sich aber vorsichtig zurück.
Plötzlich wussten sie, was so knusprig gewesen war! Heimchen lebten in dem alten Gemäuer des Backofens. Ihr Zirpen konnte man manchmal hören.
Diese etwa 2 cm kleinen Grillen waren auf das Sauerkraut gefallen, zu "Krustik" geworden und die Kosaken, die als erste von dem Gericht genommen, hatten sie auf ihre Teller gefüllt. Die Eheleute haben aber diese Erkenntnis für sich behalten. Die Soldaten, an sich gutmütig, vergaßen ihren Ärger, waren wieder zufrieden.
Die Geschichte sprach sich herum, sogar bis in die Nachbardörfer.
Über Generationen hinweg bis in die Neuzeit lachte und schmunzelte
man gern über "Kapusta mit Krustik."

     
Abschied von Brunhild Kollars

Das schrille Pfeifen der heranbrausenden Lokomotive geht bis ins Mark. Fauchend läuft der Zug ein, hüllt den Bahnsteig in dichten Nebel.
Die sich vorüber drängenden Menschen nimmt sie nicht wahr.
Die vertraute Umgebung wirkt heute unwirklich, schemenhaft.
Ein Gedanke nur ist in ihr: Gleich wird er den Koffer nehmen, die Stufen zum Perron hochsteigen, dann . . .
Ihre Augen sind trocken, leergeweint. Ihr Begleiter hält behutsam ihre kalten Hände. Sie friert an diesem sonnigen Spätsommertag. Er redet, redet, - sie nimmt die Worte nicht wahr. Zärtlich schließt er sie in die Arme. Sie sagt nichts, fühlt nichts, ist wie erstarrt.
Ein durchdringender Pfiff aus der Trillerflöte des Bahnhofsvorstehers, - stampfend setzt sich der Zug in Bewegung, rattert, rattert, wird schneller, . . . . sie läuft nebenher, bis sie atemlos stehenbleibt. - In der Ferne schwebt nur noch eine schwache Rauchfahne.
Langsam weicht die Starre aus ihrem Körper. Sie spürt wieder Leben, gleichzeitig stechenden Schmerz in der Brust, Hämmern in den Schläfen. Ein Satz formt sich auf ihren Lippen zu einem Stoßgebet: "Gott lass ihn unbeschadet über die grüne Grenze gelangen!"
Sie geht zum Ausgang des Bahnhofes. Mitleidige Blicke folgen ihr.

Jahre später sitzen zwei Freunde mit grauen Schläfen beim Schach. Nach dem Remis geraten sie ins Erzählen über Ereignisse in ihrer Jugend.
Der Gastgeber schildert sein eindrucksvollstes Erlebnis, ein Bild, das für immer in seiner Seele bleiben wird: Ein junges Mädchen läuft bei meiner Abfahrt aus Thüringen neben dem Zug her. Es tut mir weh, wie sie immer kleiner und kleiner wird, bis ich sie nicht mehr sehen kann. -
Da - sie kommt gerade mit einem Tablett, - meine Frau, das junge Mädchen von damals!

 
     

Gleis 10

An einem Winterabend im Jahre 1947
von Martin Ripp

Sie standen frierend auf der Verladerampe des Stückgutschuppens und starrten in die feuchte Dunkelheit. Die Gleise des Verschiebebahnhofs Hamburg-Eidelstedt breiteten sich fächerartig vor ihnen aus.
Manchmal hatten Alfred und Werner, die fünfzehnjährigen Zwillinge, Glück, nicht entdeckt zu werden. Wann machten die Bahnpolizisten wieder eine Pause?
Der Nebel war dichter geworden. Nur noch schemenhaft erkannten sie die abgestellten Waggons auf Gleis 10.
"Los!" Alfred gab das Kommando. Er schwenkte den Kohlensack in seiner Hand wie eine Fahne. Entschlossen sprangen sie von der Rampe hinunter und liefen wie Sprinter zum Abstellgleis. Vorbei an Tankwagen mit Chemikalien, offenen Waggons mit Baumstämmen, zerschossenen Panzern und demontierten Flakkanonen, bis sie endlich einen Waggon mit Kohlen erreichten.
"Jetzt aber rauf!" Diesmal kam der Schlachtruf von Werner. Gelenkig wie Katzen klettern sie hinauf. Und dann hinein, nichts wie hinein in den Sack. Die Steinkohle war kalt und zusammengefroren, ihre Finger schmerzten bei jeder Berührung damit.
Es war 23.19 Uhr. Der letzte Güterzug dieses Tages musste jeden Augenblick das Nebengleis passieren.
Werner und Alfred hatten keine Augen für ihre Umgebung, denn der Sack sollte unbedingt voll werden. Bellte da nicht eben ein Hund? Sie hatten sich nicht getäuscht. Plötzlich tauchten zwei Gestalten auf. Sie kamen von der Bahnhofsseite über die gepflasterte Straße.
Die Scheinwerferkegel ihrer Taschenlampen versuchten den Nebel zu durchdringen, erfaßten ihren Waggon. Ein Schäferhund war vorweg gelaufen und bellend unter ihnen sitzen geblieben.
"Komm, Werner!" rief Alfred und sprang zur anderen Seite hinunter. Er stolperte über eine Schwelle, fiel hin, schlug sich das Knie auf. "Werner!---"
Kreischend lief der Zug ein. Das Knacken der Räder in den Lücken der Schienen klang wie eine Säge. Wo war das Ende? Wann kam er endlich zum Halten?
Die Bahnpolizisten waren sofort zur Stelle, hoben das leblose Bündel Mensch aus dem Gleis und trugen es davon. Der Hund, plötzlich still geworden, als spürte er etwas Schreckliches, schlich hinterher.
Werner hatte den Sack mit den Kohlen liegen gelassen und war mit einem Sprung auf dem Pflaster gelandet. "Alfred!" schrie er verzweifelt. Er war wie gelähmt, unfähig den Bahnpolizisten zu folgen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen und vor seinen Augen tanzten tausend nasse Sterne. Er setzte sich irgendwo hin. Als er wieder zu sich kam, war eine ganze Zeit vergangen.
"Alfred ist tot", sagte er und seine Augen wurden nicht mehr feucht. Und warum? Sie wollten doch nur Kohlen klauen, wie sie das schon öfter getan hatten, damit ihre Familie nicht fror, damit sie Essen kochen konnte. Warum musste sein Bruder deswegen sterben?
Er blickte hinüber in das angrenzende Wohngebiet, hinauf zu den Fenstern. Doch die waren verdunkelt, die Leute schliefen. Sie schlafen immer, wenn es solche Fragen zu beantworten gibt. Sie schlafen und überhören diese Fragen! Und er will sie auch nicht beantworten, er will auch schlafen, schlafen und an nichts denken!
Von irgendwoher hörte er eine Glocke.
Werner sah vor seinem inneren Auge eine Kirche, eine kleine Kapelle auf einem Friedhof, und es war ihm, als komme das Geläute vom Himmel.
Er stand auf und ging mit schleppendem Gang nach Haus. "Alfred ist tot", sagte er nochmals. Als wollte er von irgendwo hören, dass es nicht stimmt, dass es eine Lüge ist!

 

   

Ein Vorweihnachtsabend von Brunhild Kollars


Der Mond schien durch die kleinen Fensterscheiben, ließ geheimnisvolle, bunte Pünktchen tanzen, weißgelben Schimmer über Betten Stühle, Tisch, Schrank und Ofen gleiten. Unwirkliches Licht verzauberte den Raum. Maria kuschelte sich unter die dicke Federdecke in dem breiten Bett der Großmutter, es schützte warm und heimelig vor Unbill. Draußen in der Dunkelheit hörte sie knirschende Schritte vorübergehen. Maria kannte keine Angst, fürchtete sich auch nicht vor Gespenstern, von denen die alte Base Mine gern erzählte. Sie kam im Herbst und Winter gern ins Haus, half beim Federn schleißen, Stopfen, Flicken, beim Verlesen der Hülsenfrüchte, für fast alle im Sitzen zu verrichtenden Arbeiten wurde sie gerne geholt. Sie ging am Stock, hatte kranke Beine. Mit ihren gruseligen Geschichten konnte sie Maria nicht erschrecken, eher mit ihrem Aussehen.
Es glich genau der Vorstellung, die sie von der Hexe aus 'Hänsel und Gretel' hatte. Lange Haare am Kinn, rötlich schimmernde Augen, ein von Runzeln zerfurchtes Gesicht mit Warzen.

Ein schwarzes Tuch zu einer Rolle gedreht lag um ihren Kopf, ließ kein Haar hervorgucken. Nur wenige, sehr alte Frauen trugen noch den 'Hulder', wie die Kopfbedeckung in Thüringen genannt wurde. - Sie erzählte von Mutproben und Wetten junger Burschen aus längst vergangenen Tagen, die bei Nacht in ein Grabkreuz auf dem Kirchhof einen Nagel schlagen mussten. Als einer der Burschen versehentlich seine Jacke mit angenagelt hatte, fiel er vor Schreck tot um, in dem Glauben, ein Gespenst hielte ihn fest.
Sie sprach auch über einen wilden Reiter, der durchs Dorf geritten war, eine Feuersbrunst voraussagte, die dann wirklich den Ort verwüstet habe.
Eine andere Geschichte handelte von einer Hexe, die vor langer Zeit gelebt hatte. Sie konnte wahrsagen, zaubern, Kühe verwünschen, dass sie keine Milch mehr gaben, sie ließ Schweine krank werden und sogar Kinder starben durch ihren bösen Zauber. Marias Großvater hielt nichts von all dem Aberglauben, entkräftete die schauerlichen Geschichten als 'Dummes Zeug', verhinderte so, dass Maria sich fürchtete.

Doch Mäuse mochte sie nicht, sie jagten ihr Schrecken ein, wenn sie auf dem Dachboden raschelten. Sollte sie Äpfel holen, die bis zum Frost auf dem Getreide lagen, klopfte sie mit einem Stock an die Bodentreppe, damit die Mäuse sich verkriechen sollten. Die Katzen und Mausefallen halfen bei der Vernichtung. - -
Wie gut, dass sie nicht auf dem Boden bei den Mäusen schlafen musste. Bald würde die Großmutter ins Bett kommen, vom Schutzengel erzählen, vielleicht auch von Weihnachten im Heimatdorf am Walde, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als sie noch klein war.

Es waren besondere Abende, sie zählten mit zu den Höhepunkten im Winter, wenn Maria bei der Großmutter schlafen durfte, weil die Eltern eingeladen waren.

Über dem Bett hingen zwei schwarzgrundierte Bilder. In kunstvoller, silberner Schrift stand auf dem einen 'Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an, und wird mir aufgetan, dann hört Ihr meine Stimme'.
So richtig konnte Maria den Sinn nicht erfassen. Sie spürte aber in dem Spruch etwas Besonderes und Verheißungsvolles. Der andere Spruch vom 'guten Hirten' war ihr verständlicher. Sie sah den Schäfer mit seiner Herde vor sich, wie sie ihm oft im Sommer begegnete, wenn sie auf dem Leiterwagen mit aufs Feld fahren durfte. -

Noch zehn Tage bis Weihnachten, sie zählte an den Fingern ab, noch soooo lange?
Ob sie wohl die große Puppe mit den Schlafaugen und den dunklen Zöpfen aus echtem Haar vom Weihnachtsmann bekommen würde?
Wohl auch das kleine geschnitzte Regal mit Kochlöffel, Quirl, Fleischklopfer und Nudelholz? Sie wünschte es sich so sehr.

Als es draußen noch hell gewesen war, hatte sie eine große Runkelrübe in die Küche geschleppt. Die Mutter hatte sie unten gerade geschnitten, dadurch stand sie fest. Maria beklebte sie mit Goldpapier, steckte in die Mitte einen Tannenzweig und eine Kerze, schmückte alles mit ausgeschnittenen Herzen, Sternen und Monden aus farbigem Papier. Das Bäumchen für die Puppe war fertig.

Mutter, Großmutter, Tante und Muhme hatten bis zum Fest noch viel zu tun. Sie würden scheuern, putzen und polieren, sogar die Stallfenster, man durfte keine Ecke in Haus und Hof auslassen. Der Mutter würden sicher auch dieses Jahr die großen Christstollen, die Kuchen und die Brote wunderbar
gelingen. Wie herrlich es dann im ganzen Haus duftete! Maria konnte sich nicht vorstellen, dass sie später so gut backen könne wie die Mutter. Morgen sollte sie beim Abstechen der Pfefferkuchen und Kekse helfen dürfen.
Der Lieblingsonkel hatte auch kürzlich gefragt, warum sie sich immer so aufs Schlachtfest freue, obwohl sie doch nie etwas von dem frischen Fleisch essen würde.
"Ach", antwortete sie, "es ist so lustig, mit allen Gästen zu feiern mit meinen Cousinen und Cousins zu spielen. Wir haben dabei so viel Spaß. Das Lustigste ist, wenn die Jungens dem Schlachter das Schweineschwänzchen mit einer Sicherheitsnadel heimlich hinten an die Jacke stecken."
Als es dunkel wurde hatte der Großvater eine Kerze angezündet und mit ihr ein Dämmerstündchen gehalten. Die anderen Erwachsenen arbeiteten noch draußen und in der Küche.
Maria hörte so gern zu, wenn Großvater von seiner Kindheit - damals im 19. Jahrhundert - als Halbwaise in dem kleinen Bergdorf erzählte.
Er hatte nie vergessen, wie glücklich er war, als sein Vater ihm zum Weihnachtsfest ein selbst geschnitztes Holzpferdchen geschenkt hatte.

Über all diesen Gedanken war Maria fast eingeschlafen, da kam endlich die Großmutter ins Bett. Sie beteten gemeinsam 'Breit aus die Flügel beide'. Wie müde war Maria doch . . .
Der Nachtwächter blies schon zum zweiten Mal in sein Horn und sang
'Hört ihr Leut' und lasst euch sagen . . . .'
Maria hörte es nicht mehr. Sie schlief.

 

   
Die Sonne geht schlafen erzählt von Brunhild Kollars

Wie ein glühender Ball sank die Sonne am Horizont. Gebannt verfolgte Sofia dieses Schauspiel. Aufgeregt rief sie ihren zwei Freunden, etwas jünger als sie, zu: "Jetzt wird die Sonne in Heyerode, (ein Dorf im Walde) mit Stricken heruntergezogen! Als ich noch so klein war wie ihr, ich glaube voriges Jahr, war ich schon mal ganz nahe dabei. Lasst uns schnell laufen! An die Stelle, wo die Sonne gleich aufschlagen wird!"
In Eile rannten sie über die Wiese am Dorfausgang, quälten sich über abgeerntete Stoppelfelder, übersprangen ein Bächlein; aber alle Mühe, dem Ball näher zu kommen, blieb erfolglos. Er wurde kleiner und kleiner, plötzlich war er ganz verschwunden. Dämmerung breitete sich aus, den Kindern wurde bange, Angst kroch in ihnen hoch, sie liefen hin und her, suchten den Rückweg, hörten überall Geräusche, schreckten zusammen. Sofia erzählte von der Hexe mit dem Kater, die gerade hinter einem Busch verschwand, im Knistern vermeinte sie Rumpelstilzchen zu sehen, das höhnisch lachend vorbei huschte. Sie fassten sich ganz fest an den Händen, da schrieen sie wie erlöst auf. Sofias Vater stand vor ihnen. Er unterdrückte die Strafpredigt. Die von Tränen verschmierten Gesichtchen schauten ihn glücklich und dankbar an. Er nahm sie alle drei in seine Arme, hob die Kleinen auf sein Fahrrad, nahm Sofia an die Hand und unter fröhlichem Geplapper ging es nach Hause.
Oft wurde noch im Dorf von dem kleinen Abenteuer der Sofia gesprochen.
Nie wieder hat sie versucht, die Sonne einzuholen, aber ihr ganzes Leben blieben die wunderbaren Sonnenuntergänge mit den großartigen Farbenspielen für sie ein faszinierendes, Wunder.

   

Nekrolog von Beate Donsbach

Amanda hieß sie -, "die zu liebende"
ländlicher Adel, stolz und reich.
Sie ritt auf weißem Pferd durchs Städtchen,
sie grüßte kaum, die Leute sah'n ihr nach.
Verehrer waren viele, doch wohl keiner
wurde gerecht dem Anspruch, den sie hatte.
Sie war gebildet, malte, sang und tanzte
und war erzogen, Dame nur zu sein.
Der 1. Weltkrieg wendete das Schicksal.
Sie musste ihren Wohlstand retten;
beschloss, mit einem schönen Laden
für Miederwaren, Wäsche Spitzen
sich und ein kleines Erbe zu erhalten.
Die Kunden blieben aus - die Katastrophe
kam mit der Inflation; der Luxus schmolz.

 

 

Dazu kam bald ein Rückenleiden.
Sie wurde krumm und noch halbblind dazu.
So ging es hin. Die kleinen Kostbarkeiten
aus frühem Reichtum dienten nun
sich Freunde hier und da zu machen,
um manchmal nicht allein zu sein.
Gestorben waren Eltern und Verwandte,
Geschwister gab es nicht - nie einen Mann.
Am Ende war sie auf dem Gut nur noch geduldet
und aß ein kaltes Gnadenbrot.
Vereinsamt und verarmt starb sie im Pflegeheim.

Die Bluse hat sie überdauert -
der schöne Schein von einst.

 

   

Text und Bild: Beate Donsbach/Literadies
(Negativ-Glasbild
60x56 cm mit schwarzer Spitzenbluse)

     
   

Kindheitserinnerung von Adelheid Dohse

In unserm kleinen Haus in Stettin war das große Wohn-und Esszimmer ein Durchgangszimmer zu den dahinterliegenden Kinderzimmern. Oben an der Wand war ein kleines Fenster angebracht, durch das man hören konnte, was im Kinderzimmer geschah. Wir nannten es die Donnerluke, weil Vater uns manchmal zur Ruhe donnerte, wenn wir abends gar zu lange rumtobten

Einmal, Mutter war nicht da, saßen Vater und Onkel Ernst, Vaters Bruder, im Wohnzimmer, während wir Kinder nebenan noch laut waren. Da sagte Onkel Ernst: "Walter, schaffst Du es heute noch, dass da mal Ruhe einkehrt?“ „Ja“, meinte Vater: "in zwei Minuten.“ Als Onkel Ernst das nicht glauben wollte, wetteten sie um eine Flasche Wein.

Darauf rief Vater mit lauter Stimme durch die kleine Luke:
“Heute dürft ihr machen, was ihr wollt!“

Atemlose Stille! Vater hatte die Wette gewonnen.

     
     

Mein Baum von Elke Kremkus

Damals standen innerhalb des Kasernenhofes einige kleinere und drei große Bäume im staubigen Boden. Einer davon war eine Kastanie.
Mehrmals täglich führte mich mein Weg an diesem Baum vorbei, der schräg gegenüber dem Tor der Kaserne stand.
Er war eine vor Gesundheit strotzende Kastanie. Mit dickem, kräftigem Stamm, hochgewachsen, mit weitausladendem, dichtem Geäst. Kein Drumherum schränkte sie ein.

Im Frühjahr schmückten sie Blüten über Blüten, die mir im Sonnenlicht wie leuchtende Kerzen am Weihnachtsbaum vorkamen. Verblüht auf der Erde glichen sie dem Schnee.

Im Herbst sammelten wir ihre unzähligen heruntergefallenen Früchte, aus denen wir Figuren bastelten. Ach, wie schade, dass sie nicht essbar waren und dachte an die Bucheckern, die ich mir gierig in den Schlund stopfen konnte.

Je nachdem, was wir anfertigten, bohrten wir entsprechend viele Löcher mit einem Frittbohrer (Handbohrer) in die Kastanien und steckten Streichhölzer als Beine oder Arme hinein, deren Schwefelköpfe wir vorher entfernte hatten. Manchmal klebten dann etliche Pflaster an unseren Fingern, weil der Bohrer von der glatten, harten Frucht abgerutscht war und unsere Hände verletzt hatte.

Die zahlreichen Kastanien reichten nie aus, und es dauerte uns viel zu lange, bis die nächsten herunterfielen. Die größeren Kinder versuchten deshalb immer wieder, auf den Baum zu klettern. Unmöglich! Es war unmöglich einen Ast zu erreichen. Es half auch nichts, wenn einer auf die Schultern eines anderen stieg, weil eine Möglichkeit zum Festhalten und zum Hochangeln fehlte.
Mit Stöcken, Steinen oder ähnlichem rückten wir dem Baum zu Leibe. Mit Erfolg! Aber nicht nur die Früchte, sondern auch Blätter und Zweige fielen uns zu Füßen. Hatten wir genug, verließen wir das Schlachtfeld.

Wenn ich mit meinem jüngsten Bruder in die Nähe des Baumes kam, zog er mich aus seiner Reichweite. Verwundert schaute ich auf seinen lächelnden, feuchten, halb geöffneten Mund, aus dem mich Zahnlücken anstrahlten. Sein Silberblick bettelte um Schweigen.

Ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, mein Bruder zerrte mich von der Kastanie weg. Ich fragte ihn nie weshalb, geriet aber deswegen ins Zweifeln. Entweder stimmte etwas mit dem Baum nicht oder mit meinem Bruder. An Gespenster glaubte ich schon lange nicht mehr und kam zu dem Entschluss: Mein Bruder ist krank.

Nach langen Jahren kehrte ich wieder einmal an den Ort meiner Kindheit zurück, nicht nur, um mir das neue Wohngebiet, das nach Abbruch der Kaserne dort aufgebaut worden war anzusehen, vielmehr war ich diesmal auf der Suche nach Gefühlen und Gerüchen der Vergangenheit. Der Kastanienbaum gehörte dazu. Ich suchte ihn, obwohl er damals nicht zu übersehen war. - Es gab ihn nicht mehr!

An der vermeintlichen Stelle blieb ich stehen. Gedanklich zogen in schnellem Wechsel verschiedene Bilder von dem Baum an mir vorbei. Ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, als ich ihn mir im Herbst vorstellte, wenn wir auf der Jagd nach seinen Früchten waren: er sah dann aus wie ein "gerupftes Huhn"!

Mittlerweile wusste ich, warum mein Bruder damals Angst vor ihm hatte. Ich habe lauthals über seine Antwort gelacht aber auch, weil mir diese Erklärung nie eingefallen war: Eine große Frucht, die noch in der stacheligen Hülle gesteckt hatte, war ihm auf den Kopf gefallen. Er war darüber so sehr erschrocken, dass er sich schämte es mir zu sagen.

Text und Bild: Elke Kremkus, Hamburg, den 06.01.09
Copyright © by Elke Kremkus


     
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