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Zur Ruhe komm en
Zur Ruhe kommen Seite 2

Zur Ruhe kommen 3



Äpfel bringen Entspannung . . .

Eine Bitte

Lasst mir meine Träume!
Lasst mir meine Sehnsucht!
Lasst mir die Hoffnung
und meine Fantasie.

Nehmt Ihr mir alles,
meine Träume,
meine Sehnsucht
und meine Hoffnung,

dann ist mein Leben
nicht mehr wert
gelebt zu werden.

Gertrud Pforr©

 

 



"Kerzen"
Ölbild von Elfi Bock/
Literadies

     

Charlotte Brozzo

Nachts

Die warme Luft umschmeichelt mich,
Der laue Hauch lässt Blätter zittern.
Ich sehe dich, wo du nicht bist,
Die Dunkelheit kann mich nicht schrecken.

Ein graues Licht, ein Schimmer nur
Bringt Kühle in die Nacht.
Jetzt bist du da, ich sehe dich.
Da bin ich aufgewacht.


Gedanken zum Totensonntag

von Christa Renken
Bilder von Literadies



Der Tod ist kein Untergang
sondern ein Übergang:
Vom Erdenwanderweg
hinein in die Ewigkeit.

Cyprian von Karthago


Der Gang zum Friedhof
sollte uns nicht mit Trauer,
sondern mit Trost erfüllen.

 

Die Zusammengehörigkeit
und die Liebe bleiben
über das Grab hinaus bestehen.

Das Wesen des geliebten Menschen
wird immer in und um uns sein.


Und Gott wird abwischen
alle Tränen von ihren Augen.
Und der Tod wird nicht mehr sein.

Bibel, Offbarung 21,
Vers 4

Der letzte Traum von Charlotte Brozzo

Peter Stammer lag in seinem schmalen Krankenhausbett. Er schwitzte wie immer, nachdem der Arzt ihm die Spritze gegeben hatte, die seine furchtbaren Schmerzen wenigstens für einige Stunden betäubte.
Er sah zu seinem Nachtschrank, auf dem noch sein Abendbrot stand: eine dünne Scheibe Brot mit Butter und eine Tasse mit Milchsuppe. Erika, seine Frau hatte ihn gedrängt, doch einige Happen zu essen und ein paar Schlucke zu trinken.
Hunger hatte er keinen und Appetit schon gar nicht. Er legte seine Arme oben auf die Decke, so war es etwas kühler. Er dachte an Erika, die ihn täglich besuchte. Seit Wochen schon. "Sie wird immer blasser" dachte Peter, "aber sie lässt sich nichts anmerken."
Immer versuchte sie, ihn aufzuheitern, indem sie ihm kleine Geschichten von Kathrin erzählte. Ach ja, Kathrin, seine zwölfjährige Tochter. Auch sie kam ein oder zweimal in der Woche zu ihm ins Krankenhaus. Sie bemühte sich dann immer, ganz leise und ruhig zu sein.
"Dieser Irrwisch", dachte der Vater, "immer in Bewegung und für jeden Unsinn gut."
Aber böse sein konnte er ihr nicht, wenn sie ihn mit großen Augen ansah.
Die Tür öffnete sich und Schwester Susanne kam herein, um das Geschirr abzuräumen.
"Sie haben ja schon wieder nicht aufgegessen", sagte sie vorwurfsvoll.
Peter Stammer sah sie entschuldigend an: "Aber ich habe doch etwas gegessen, und ich verspreche Ihnen, morgen das Frühstück, esse ich ganz auf!"
" Wir werden sehen", antwortete die Schwester. Sie schaltete das Licht über dem Kopfende des Bettes an und ging mit den Resten des Abendessens hinaus.

Peter war allein. Später würde noch die Nachtschwester kommen und ihm seine Schlaftablette geben. Wenn er Glück hatte und die Schmerzen nicht all zu schnell wiederkamen, könnte er bis zum frühen Morgen durchschlafen.
Wenn er Glück hatte ! Er sah aus dem Fenster. Der tagsüber blaue Himmel überzog sich allmählich mit grauschattigen Schleiern. Bald würde es ganz dunkel sein. Ob er heute Nacht mal einige Sterne sehen könnte?
Vielleicht könnte die Schwester sein Bett ganz nahe ans Fenster stellen.
"Ach was", rief er sich zur Ordnung, "mit der Tablette schlafe ich und dann ist es gleichgültig, Sterne oder nicht!"
Er hätte sich gerne einmal umgedreht, aber jede Bewegung konnte die Schmerzen wieder hervorrufen. So blieb er unbeweglich auf dem Rücken liegen. Verging die Zeit langsam oder schnell? Peter Stammer hatte fast kein Zeitgefühl mehr. Hell und dunkel, Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, Fiebermessen, Untersuchungen, Spritzen, Tabletten, Bettenmachen, kurzes Aufstehen zum Waschen und zur Toilette, das waren seine Fixpunkte, an denen er die Zeit maß. Und Erikas und Kathrins Besuche. Es war jetzt fast dunkel geworden und das Licht über seinem Bett mühte sich vergebens, Helligkeit vorzutäuschen.

Ab und zu war eine Schwester hereingekommen, hatte ein paar Worte gesagt und war wieder gegangen. Irgendwann später wurde die Tür geöffnet. Helles Licht fiel ihm schmerzhaft in die Augen. Schwester Hanna, die Nachtschwester trat herein, und mit der Heiterkeit, die wohl alle Krankenschwestern an sich haben sagte sie: "So, Herr Stammer, da bin ich mit Ihrem Schlaftrunk".
Dabei nahm sie aus einem kleinen Behälter eine längliche, rosafarbene Tablette. Dann goss sie Apfelsaft in ein Glas und stellte alles auf den Nachtschrank.
"Ein Schlaftrunk aus Rum und heißem Wasser wäre mir lieber" , scherzte Peter. Schwester Hanna lachte und sagte fröhlich: "Aber nicht hier im Krankenhaus. Da müssen Sie schon wieder gesund werden. Aber dann dürfen Sie!"
Sie schüttelte sein Kopfkissen auf, dann gab sie ihm Tablette und Glas in die Hand, wobei sie ihn aufrichtete und stützte. Peter schluckte die Tablette und trank das Glas leer. Er legte sich aufseufzend zurück. Schwester Hanna löschte das Licht über dem Bett: "Gute Nacht, schlafen Sie gut bis morgen früh." Im Hinausgehen schaltete sie auch das große Licht aus.

Peter sah zum Fenster, das nun ein dunkelgraues Quadrat war. Er hatte, seitdem er in diesem Einzelzimmer lag, darum gebeten, die Vorhänge nicht zuzuziehen, denn hier oben im achten Stock sah keiner mehr ins Fenster hinein. Er liebte diese Zeit zwischen Wachen und Schlafen.
Er liebte es, seine Gedanken wandern zu lassen, dabei Bilder und Figuren zu sehen, schillernde und schimmernde Farben, die auf und abwallten.
Er sah Gesichter und Menschen, viele Menschen. Sie standen alle in einer Reihe und bewegten sich langsam vorwärts. Nahe vor ihm standen Erika und Kathrin aber auch viele Bekannte und Unbekannte. Er sah sich um und blickte über eine unendlich lange Reihe von Menschen.
Er konnte weder Anfang noch Ende sehen, und alle gingen langsam voran.
Sie kamen irgendwo her und gingen irgendwo hin.
Plötzlich sah er neben der Menschenreihe in kurzen Abständen Gestalten stehen. Sie sahen aus wie riesige schwarze Vögel mit großen Schwingen. Erschreckend aber war für Peter, dass diese Gestalten sich aus der Menschenreihe alle paar Augenblicke einen herauszogen. Sie umarmten ihn mit ihren Schwingen. Dann drehten sie sich um und wenn sie sich zurückdrehten, war der Mensch verschwunden. Manchmal, wenn auch selten, zogen sie einen hervor, streiften ihn mit den Schwingen und schoben ihn wieder in die Reihe zurück.

Mit Entsetzen sah er plötzlich, dass einer dieser Vögel Kathrin aus der Reihe zog. Er schrie auf. "Nicht Kathrin, lasst sie doch, sie ist doch noch ein Kind, bitte, nehmt mich dafür! Bitte, bitte!" und er streckte die Arme aus, als wolle er sie festhalten.
Der Schwarze sah zu Peter hin. Dann schob er langsam Kathrin wieder in die Reihe. Der Mann konnte sich nicht mehr bewegen. Er fühlte, wie er herausgezogen wurde und wie ihn die Schwingen umschlossen. Einen kurzen, lächelnden Blick konnte er noch auf seine Tochter werfen, dann versank er im Nebel.

Am nächsten Morgen rief der Arzt aus dem Krankenhaus bei Erika an und sagte ihr, dass ihr Mann, Peter Stammer, in der Nacht für immer eingeschlafen sei. Erika machte sich sofort auf den Weg in die Klinik. Dort erwartete sie Schwester Hanna, die sie voller Mitgefühl ansah. "Gestern Abend haben wir noch ein wenig gescherzt" , sagte sie und fuhr fort; "aber als ich gegen Mitternacht noch einmal nach ihm sah, atmete er nicht mehr.
Ich benachrichtigte sofort den diensttuenden Arzt." Dann setzte sie noch hinzu: "Er sah so friedlich aus. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, als hätte er gerade einen wunderschönen Traum geträumt."


 

 

Ich träume

In meinen Träumen bewahre ich
das Staunen und Lachen

wenn schlaftrunken alle Sterne
auf meine Märchendächer purzeln

und der Mond spitzbübisch
durch blühende Traumfenster blickt.

Bis die knarrende Türe des Morgens
in den neuen Tag fällt

und alle Lichtpunkte auf meiner Bettdecke
sich in Glückmomente verwandeln

damit ich sie festhalte am Saum
dieser verschwiegenen Nacht.

© Christin von Margenburg

Foto: Gertrud Everding/ Literadies

Ichkomme ins Leben.
Ich atme. Ich preise
die kosmische Reise.

Ich prüfe das Leben.
Ich falle. Ich stehe.
Ich greife. Ich gehe.


Ich spiele das Leben.
Ich rieche. Ich schmecke.
Erkenne. Entdecke.


Ich fühle das Leben.
Ich höre. Ich sehe.
Vertraue. Verstehe.


Ich teile das Leben.
Ich schlafe. Ich wache.
Ich weine. Ich lache.


Ich tanze das Leben.
Ich wieg' mich. Ich schwinge.
Ich dreh mich. Ich singe!


Ich - zweifle am Leben.
Ich spotte. Ich hasse.
Vernichte. Verlasse.

Ich lebe!

von Claus Günther

Ich lebe!

Digitalbild
von Gertrud Everding
Literadies



Ich fliehe das Leben.
Bin ängstlich. Bin schwierig.
Bin süchtig. Bin gierig.


Ich leide am Leben.
Ich schmerze. Ich fluche.
Ich sehne. Ich suche.


Ich kämpfe ums Leben.
Ich tobe! Ich schreie!
Bereue. Befreie.


Ich liebe das Leben.
Ich bin ich... genieße,
umarme, zerfließe.


Ich achte das Leben.
Mich demütig neigend,
empfange ich schweigend.


Ich danke dem Leben,
dem Licht jeder Zelle,
der göttlichen Quelle.


Ich atme das Leben.
Bin Himmel. Bin Erde.
Ich sterbe - und werde.



     

Krieg für die Freiheit?

Krieg, entsetzliches Scheusal,
ich kenne dich!
Du prunkst mit großen Worten
von Freiheit, Recht und Ehre.

Doch trägst du blut'ge Totenkleider
unterm stolzen Waffenrock;
dein Lohn ist Qual,
und Elend ist dein Schmuck.

Krieg für die Freiheit?
Nein! Krieg ist Blut und Leid,
ein Meer von Tränen.
Ich schrei's heraus:

Wie kann die Macht der Großen
meine Freiheit sein?

Gertrud Everding


"Getupfte Energie"
Gemälde von Elfi Bock/
Literadies
Öl auf Holz
29.5 cm x 26.5 cm


 



"Nordsee"
Aquarell von Elfi Bock/Literadies




Hoffnung


Regenbogen
Friedensverheißung
schimmernde Kugeln
schweben - tanzen
auf dem Weg
-
zu dir -


Gertrud Everding

 

Krieg

Trauer erfüllt mich,
wenn ich der Opfer gedenke,
der Kinder, der Frauen,
der Greise, Soldaten.

Zorn befällt mich,
wenn ich die Täter bedenke,
die Macht
- und Befehlshaber,
die Menschen als bloße Mittel
für ihre Zwecke mißbrauchen.

Trauer und Zorn
beschweren mein Herz,
da ich erlebe,
was Menschen vermögen.

Verstört und ratlos zugleich
such' ich das Antlitz des Menschen
- Ruinen starren mich an -

H.-W. Ecker





"Schuld"
Monotypie von H.-W. Ecker/Literadies

Ein ganz gewöhnlicher Tag

- Nieselregen -
Blut auf der Straße
Angst würgt mich,
Menschen stehen herum - - gaffen - -
Schreie - endlich Hilfe.
Wohin geht die Fahrt?
Martinshörner gellen,
Lichter - blaue Blitze -
Sanitäter - Hektik -
Hohe Mauern, weiße Laken,
Die Ärzte flüstern
Wortfetzen huschen -
Metastasen - - Metastasen
Rote Nebel vor meinen Augen -
Der Tod hat angeklopft -

Text und Digitalbild:
Gertrud Everding/Literadies


 

Nur eine Zigarette
oder

Menschen, die gegangen sind

von Elke Kremkus


Ich ziehe genussvoll an der Zigarette, inhaliere tief, rieche den Rauch, den ich bedächtig ausatme und verfolge ihn, wie er langsam aus dem offenen Küchenfenster schwebt und sich mit der Abendluft vermischt.

Draußen ist es, der Jahreszeit entsprechend, schon lange dunkel. In den Fenstern auf der anderen Straßenseite sehe ich verschiedenfarbiges Licht. Ich drücke die Zigarette aus.
Wieder schaue ich auf die Häuser gegenüber. Ohne Anlass. Einfach nur so. Die Treppenhausbeleuchtung drüben erlischt.

Das Grün der Linden auf beiden Seiten der Straße und ihre Stämme passen sich der Dunkelheit an.

Windstille! Weder die Zweige noch die Blätter bewegen sich.
Das Einzige, was ich höre, ist dann und wann ein Auto auf der hundert Meter entfernten Hauptstraße.

Ich drehe mir eine neue Zigarette, zünde sie an, schaue weiter aus dem Fenster, starre ins Dunkel. Meine Gedanken ziehen mit dem Rauch der Zigarette.
Den ersten kühlen Windzug, der meinen Kopf umspielt, der meinen Kopf umspielt, nehme ich kaum wahr. Den zweiten fühle ich deutlich. Der dritte veranlasst mich auf die Linden zu sehen. Weder Zweige noch Blätter bewegen sich. Woher kommt der Wind?
Edgar! Das kann nur Edgar sein! Edgar, der vor ein paar Tagen gestorben ist. Und der, bevor er sich auf die letzte Reise begibt, noch einmal den rauch meiner Zigarette schnuppern will -
Das tat er gern - und der sich jetzt verabschiedet.
Später, auf dem Weg zur Beerdigung, wird diese Szene wieder in meinen Gedanken ablaufen.
Bei der Trauerfeier werde ich hin und wieder abschweifen. Werde vor meinem inneren Auge andere Beerdigungen sehen, die noch nicht lange zurück liegen. Und ich werde an einen Freund denken, der ohne Trauerfeier begraben wurde.

"Geh' aus mein Herz und suche Freud' …" An dieser Stelle kann ich dann vor lauter Tränen nicht mitsingen.Und als der Pastor an die Urne tritt und die Arme segnend hebt, sehe ich unvermittelt meinen verstorbenen Freund, wie er das Kreuzzeichen macht. Und indem er mit komischem Ernst seine Hand von der Stirn hinunter zur linken Brust rüber zur rechten führt, sagt er: "Ihr da hinten! Runter vom Rasen!" Ich muss mir das Lachen verkneifen.

Um 19 Uhr werde ich dann wieder zu Hause sein, werde mit Harry bei Kerzenschein Abendbrot essen und danach einen Krimi anschauen. Und es wird viele Tote geben, aber wenig Blut -


     

Totensonntag von Martin Ripp


"Guten Tag Frau - Skoronnek!" sagte er, nachdem er sich im Vorbeigehen wegen ihres komplizierten Namens schnell noch auf der Inschrift vergewissert hatte. "Wir sind ja gewissermaßen Nachbarn und trotzdem ist es ein Zufall, daß wir uns treffen."
Die Frau mit dem schwarzen Hut und im grauen geöffneten Mantel, die dabei war, letzte verwehte Blätter aus dem Rasenstück herauszuharken, blickte überrascht auf."Ach Sie sind es, Herr Wolter." Sie ließ die Harke fallen, kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand. "Nun kann ich mich endlich einmal bedanken! Drei-, viermal war ich im Sommer hier und jedesmal wennich befürchtet hatte meine Blumen seien vertrocknet, leuchteten sie mir prall entgegen, weil sie ausreichend begossen worden waren." Den Kranz um den Stein, den sonst ihre Blumen geziert hatten, hatte sie mit Heide bepflanzt und zusätzlich mit Tannenzweigen abgedeckt.
"Ich mußte meine Blumen ja auch begießen", antwortete Herr Wolter, "und die zwei oder drei Kannen mehr---"
"Trotzdem!" sie zeigte auf den Grabstein seiner Frau, der irgendwann ja auch seiner werden würde, "Sie sind ja auch nicht mehr der Jüngste!"
Herr Wolter lachte. "Bei einem Doppelgrab ist der Überlebende fast ein gläserner Mensch."
Er rückte an seiner Brille, schaute zum Grabstein ihres Mannes und registrierte Alwine als ihren Vornamen und das Geburtsdatum: 22.11.1926.
"Die drei Jahre, die ich älter bin", meinte er. "Übrigens - herzlichen Glückwunsch nachträglich! Sie hatten gestern Geburtstag."
"Danke! Aber das andere, das noch fehlende Datum, kennen wir alle nicht!"
Sie schwiegen. Frau Skoronnek griff wieder nach ihrer Harke, und Herr Wolter legte das Gesteck, das er, halb in Zeitungspapier eingeschlagen, noch in der linken Hand gehalten hatte, auf das bereits abgedeckte Grab seiner Frau.
"Ihr Stein ist noch so schön sauber", stellte sie fest, kehrte die Blätter auf eine aufgerissene Plastiktüte und versteckte die Harke zwischen den Rhododendronbüschen hinter dem Grabstein.
Foto: Literadies

"Unser ist so grün geworden. Ich hatte es schon mit einem "Anti-Spray" versucht, das man mir empfohlen hatte."
"Das liegt am Material", antwortete Herr Wolter. Er kam an ihre Seite, deckte die Blätter mit der Zeitung ab, nahm die Folie vorsichtig hoch und trug sie zum Kompostbehälter, fünf Schritte weiter.
"Sie müssen mal darauf achten, die glatten, polierten Steine nehmen das Grün nicht so an", sagte er als er zurückkam. "Unser Stein ist auch rauher. Ich habe ihn im Frühjahr mit Seifenwasser und einer Bürste bearbeitet."
"Ach deswegen! - Kommen Sie mit zum Bus Richtung Haupteingang?"
"Ja", stimmte er zu. "Heute brauche ich ja nicht zu gießen!"
Auf dem Weg zur Haltestelle sagte er: "Bis zum Sommer hatte ich noch meinen Wagen. Nachdem ich vor einem Jahr wegen "Grauen Stars" operiert wurde, mußte mein linkes Auge wegen beginnender Netzhautablösung noch einmal behandelt werden. Danach fühlte ich mich unsicher im Straßenverkehr, habe das Auto verkauft und meinen Führerschein abgegeben."
"Respekt!" lobte Frau Skoronnek. "Aber trösten Sie sich mit mir! Vor vier Jahren, nach dem Tode meines Mannes, mußte ich mich auch von unserem Auto trennen, weil ich keinen Führerschein habe." Sie machte eine Pause.
"Eigentlich sollte es schon ein halbes Jahr früher sein, denn als der Wagen wochenlang unbewegt in der Garage gestanden hatte, sagte mein Mann: 'Verkauf ihn doch! Er steht nur unnütz herum und rostet!' Kommt gar nicht in Frage! entrüstete ich mich. Er hat uns nie im Stich gelassen. Und wenn du erst wieder gesund bist, freust du dich, wenn du ihn wieder fahren kannst. Er hat mich nur hoffnungsvoll angelächelt und nie wieder darüber gesprochen."
Herr Wolter ging schweigend an ihrer Seite. Was konnte er darauf auch antworten?
"Oh, da kommt unser Bus!" rief sie und wurde schneller.
"Den schaffen wir nicht mehr!" Er hielt sie zurück. "Die fahren heute doch alle naslang!"
Obwohl sie höchstens fünf Minuten an der Haltestelle gewartet hatten, waren sie überrascht, daß so viele Plätze besetzt waren. In der Mitte fanden sie aber noch zwei Sitze nebeneinander. Herr Wolter blickte umher und sagte kopfschüttelnd: "Das ist ja erschreckend!"
"Was?" fragte Frau Skoronnek und sah sich ebenfalls um.
"Mir ist das auf der Hinfahrt schon aufgefallen. Alles Frauen! Nur da vorne sitzt noch ein Mann."
Sie lachte. "Ja, heute kommen auch die Frauen, die das ganze Jahr über keine Zeit hatten, um mit einem Gesteck ihr Gewissen zu beruhigen!"
"Sie können ja ganz schön zynisch sein!" war er überrascht. "Da verliere ich ja fast den Mut, Sie zum Kaffee einzuladen. - Oder werden Sie erwartet?"
"Mein 'Hansi! erwartet mich!"
"Ihr Wellensittich hat bestimmt genug Futter im Käfig, daß er nicht gleich verhungert!" Er lächelte.
"Im Käfig sitzt ein Kanarienvogel!" klärte sie ihn auf. "Ich habe aber gar nicht soviel Geld eingesteckt."
"Brauchen Sie ja auch nicht!" widersprach Herr Wolter. "Ich sagte etwas von einer Einladung!"
"Wie komme ich dazu, mich von einem wildfremden Mann einladen zu lassen?!" entrüstete sie sich, aber ohne Überzeugungskraft.
"Wildfremd?" tat er empört. "Karl-Heinz Wolter, geboren am 29. Oktober 1923, seit zwei Jahren verwitwet. Das haben Sie bereits der Inschrift entnommen. Und ich habe mich offenbart: Kein Auto, keinen Führerschein, Sehfehler auf dem linken Auge. - Wieso müssen Sie vor mir Angst haben?"
Frau Skoronnek hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen.
"Tut das gut an so einem Tag!" sagte sie. "Ich habe es begriffen, Sie haben Ihr Schicksal ebenfalls angenommen. - Kennen Sie denn ein gutes Lokal in der Nähe des Bahnhofs?"
"Es gibt dort ebensoviele wie Blumengeschäfte. Die profitieren alle von der Nähe des Friedhofs."
Am Ausgang überquerten sie die Hauptstraße, und Herr Wolter führte Frau Skoronnek zu einem Restaurant, das an der Kreuzung lag. Vor dem Eingang war ein Schild aufgestellt: 'Ab 15 Uhr Kaffee und Kuchen (eigene Herstellung)'
Herr Wolter blickte auf seine Uhr und sagte: "Zwanzig nach drei, das paßt gut! Seit zwei Jahren war ich nicht mehr hier. Ich glaube, wir wurden ganz gut bedient, obwohl mir das an jenem Tag gleichgültig war. So eine Trauerfeier wirkt immer etwas heuchlerisch. Vor einer Stunde noch Tränen in den Augen, können die meisten nach einem Weinbrand dann schon wieder scherzen."
Sie saßen einander an einem Zweiertisch gegenüber. Herr Wolter war überzeugt, daß ihr graues, durch den von ihr getragenen Hut angedrücktes Haar, früher brünett gewesen war. Ihre Haut war noch relativ glatt, die Wangen etwas gerötet. Ringe mit einem blauen Stein verdeckten ihre Ohrläppchen.
Sie betrachtete ihn ebenfalls. Das Licht der Kerze. die der Kellner bei ihrer Bestellung angezündet hatte, spiegelte sich in den getönten Gläsern seiner Hornbrille, so daß sie die Farbe seiner Augen nicht erkennen konnte. Er hatte eine blasse Gesichtsfarbe und sein strähniges aschgraues Haar war scheitellos bis zum Stirnansatz gekämmt. Da er weder eine Mütze noch einen Hut getragen hatte, bemerkte sie bereits auf dem Friedhof eine kahle Stelle am Hinterkopf. Er war sorgfältig rasiert, am Kinn entdeckte sie eine kleine Schnittwunde.
Lächelnd sagte Sie: "Der Kellner hält uns bestimmt nicht für ein Liebespaar! Könnten uns unsere verstorbenen Ehepartner jetzt sehen, würden sie nichts dagegen haben!"
Herrn Wolters Schweigen deutete sie als Zustimmung. Der Kellner stellte die Kännchen auf den Tisch, servierte Frau Skoronnek den Käsekuchen und schob die Nußtorte an Herrn Wolters Seite.
"Hm, schmeckt gut!" sagte sie. "Das war eine gute Idee, gemeinsam Kaffee zu trinken! - Wie ist die Torte?"
"Ein bißchen zu süß. - Wollen Sie die Walnuß haben?"
Sie lachte. "Nein danke!"
Nachdem sie eine Weile geschwiegen, den Kaffee und Kuchen genossen hatten, nahm sie eine Packung Zigaretten aus der Handtasche. Sie bot ihm eine an, aber er schüttelte den Kopf. "Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen!" Sie zündete sich eine Zigarette an.
"Wie könnte ich, wir sitzen ja in einem Lokal, wo das Rauchen nicht verboten ist!"
"Sie haben wohl nie geraucht?"
"Doch, aber als unsere Tochter geboren wurde, habe ich es von heut auf morgen aufgegeben."
"Ich weiß, daß das nicht gesund ist", sagte sie und blies den Rauch zur Seite, um ihn nicht zu sehr damit zu belästigen. "Aber die drei oder vier Zigaretten, die ich am Tage, meist nach den Mahlzeiten rauche, schaden mir in meinem Alter bestimmt nicht mehr." Sie nahm einen Schluck Kaffee und ergänzte: "Mein Mann war übrigens Nichtraucher und trotzdem mußte er an Lungenkrebs sterben!"
Herr Wolter schenkte sich wortlos die zweite Tasse Kaffee ein und vermied es, sie anzusehen.
"Haben Sie noch mehr Kinder?" nahm Frau Skoronnek den Faden wieder auf.
"Ja und nein. Zwei Enkelkinder. Aber die Ehe wurde geschieden. Die Kinder leben bei ihrem Vater in Frankfurt, und meine Tochter ist als Flugbegleiterin sehr oft unterwegs."
Sie goß sich noch den Rest aus ihrem Kännchen in die Tasse und sagte:
"Bei Ihnen ist es jetzt zwei Jahre her. Woran ist Ihre Frau gestorben? Auch an - an dieser furchtbaren Krankheit?"
Herr Wolter zögerte einen Augenblick. "Es hat mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen!" sagte er dann. "Es war ein Unfall. Meine Frau wollte morgens mit dem Fahrrad zum Markt fahren. Kurz davor, an der Kreuzung, ist es passiert. Die Ampel zeigte für sie grün, aber der Lkw ist trotzdem um die Ecke gefahren. Der Fahrer hat meine Frau nicht gesehen." Herr Wolter schluckte. "Er sagte einfach, er hätte sie nicht gesehen!"
"Entschuldigung!" sagte Frau Skoronnek betroffen. "Ich konnte nicht ahnen, daß es noch so tief sitzt! Wie konnte ich wissen, daß Ihre Forschheit nur gespielt war?!"
"Ja, wie sollten Sie das wissen? Man kennt sich selbst nicht, und wenn dann der Finger in die Wunde gelegt wird, kommt es heraus, daß man sich etwas vorgemacht hat. Ich glaube, die Idee mit unserem Kaffeetrinken war doch nicht so gut. Ich wollte Sie nicht belasten!"
"Im Gegenteil!" sagte Frau Skoronnek. "So gefallen Sie mir viel besser! Das andere wirkt im Nachhinein auch unnatürlich! - Aber darauf muß ich noch eine rauchen. - Darf ich?"
Jetzt konnte er wieder lächeln. "Ich habe noch gar nicht nach Ihren Kindern gefragt."
"Wir haben keine. Mein späterer Mann ist erst 1947 aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen. Er war unterernährt und hatte Erfrierungen an den Füßen. Ich war damals Krankenschwester in Eppendorf, wo ich ihn kennengelernt habe. Sein älterer Bruder war an der Westfront gefallen, und sein Elternhaus war ebenso zerbombt worden wie meins. Wir heirateten im selben Jahr und mußten wie viele bei Null anfangen. In dieser Verfassung und unter diesen Umständen hielten wir es für unverantwortlich, Kinder in die Welt zu setzen." Sie inhalierte einen kräftigen Zug. "Zehn Jahre später sehnten wir uns danach. Ich war Anfang dreißig, mein Mann etwas älter. Aber es klappte nicht. Wir hätten zum Arzt gehen und uns untersuchen lassen können, aber wir wollten es beide nicht, vielleicht wegen möglicher Schuldzuweisungen. So sind wir kinderlos geblieben."
Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, und er winkte dem Kellner.
"Wir haben soviel voneinander erfahren", sagte Herr Wolter. "Wäre es unverschämt, wenn wir uns wiedertreffen? Oder rechtfertigt das nicht geradezu ein Wiedersehen?!"
"Ja, nächstes Frühjahr in Ohlsdorf", antwortete sie lächelnd. "Sie sind doch Spezialist in Grabsteinreinigung!"
Herr Wolter blieb ernst und sagte: "Ich habe aber nicht mehr soviel Zeit! Denken Sie an den Bus, in dem außer mir nur noch ein anderer Mann mitfuhr!"
Er hatte die Rechnung bezahlt, das Portemonnaie aber in der Hand behalten und entnahm eine Visitenkarte, die er ihr reichte. "Lachen Sie jetzt aber nicht! Es sind noch alte Firmenkarten. Als ich vor fünfzehn Jahren in den Ruhestand ging, habe ich ein paar davon mitgenommen. Meine Anschrift und die Telefonnummer stimmen immer noch. Nur die Firma ist inzwischen in Konkurs gegangen."
"Sie hätten da nicht aufhören dürfen!" Frau Skoronnek lachte. "Jetzt wo wir unseren Humor wiedergefunden haben, sollten wir gehen!" Sie warf einen Blick auf die Visitenkarte und steckte sie in die Handtasche. "Wie kommen Sie nach Hause?"
"Entweder mit dem Bus hier von der Ecke, oder mit der S-Bahn in Richtung Stadt."
"Ich fahre leider entgegengesetzt", bedauerte Frau Skoronnek. "Aber kommen Sie doch trotzdem mit zum Bahnhof, dann haben wir heute schon einen gemeinsamen Weg!"

 

 


Hier ist der Ton zum folgenden Gedicht!

nur der duft

geh zum wald der verse hin,
mache dort besuch,
suche zwischen reim und sinn,
an den wurzeln such

eine kleine pflanze da,
die im schatten blüht
und den himmel niemals sah,
dem sie ähnlich sieht.

 

nur ihr duft, ihr himmelblau,
in den kleinsten reim
eingebunden, muss genau
heut bei gertrud sein!

geh ins internet und schau -
findest beides bald:
nur den duft, das himmelblau!
die pflanze - bleibt im wald.

Text und Dekor: Marlou Lessing/plattpartu.de

 

Ich denk an Dich

Der Abend kommt, der Tag geht schlafen.
Die Sonne zieht den ausgefransten Schlafrock an.
Die Schiffe dümpeln müd im Hafen,
Von irgendwo hör ich 'nen Leierkastenmann.

Die Vögel sitzen schwatzend in den Bäumen,
Die Katzen wetzen ihre Krallen schon.
Sie haben keine Zeit zum Träumen.
Aus einem Fenster kommt Musik mit hundert Phon.

Trotzdem ist Feierabend wieder,
Der Mond packt schon die Pfeife aus.
Vom dritten Stockwerk hört man freche Lieder.
Wer macht bloß solchen Krach in unserm Haus?

Was geht's mich an! Ich schau in deine Augen,
Und so viel Liebe spiegelt sich darin.
Was soll schon alles and're taugen?
Du - du gehst mir nicht mehr aus meinem Sinn.

Gertrud Everding

 



Almunécar/Andalusien
Gertrud Everding

Literadies

 
   

Ein Tag in deinem Leben

Bleib stehn!
Geh nicht vorbei.
Schau doch die Sonne!
Sieh die Farben!

Es ist dein Leben
jetzt und hier.
-Unwiederbringlich-.

Denn morgen wird
was heute ist
schon gestern sein.

-Vergiss es nicht. -

Foto und Text:
Gertrud Everding
/Literadies

 

 

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